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Wanderlust

Myself Magazin - Juli 2016

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MUSS ICH DAS? JETZT AUCH NOCH DEM RUF DER BERGE FOLGEN?

Der Versuch einer Antwort.

Kirsch-beer-mar-me-la-de … Kirsch-beer-mar-me-la-de
… Kirsch-beer-mar-me-la-de …, trommelt es in meinem Kopf. Bei jedem Schritt eine Silbe, und es ist nicht klar, ob der Körper oder der Geist hier inmitten der Natur den Takt vorgibt. Überhaupt ist einiges nicht klar an diesem schönen Sonntagmorgen.
Wieso zum Beispiel habe ich mich nicht einfach genüsslich umgedreht, als der Wecker in aller Herrgottsfrühe geläutet hat? Noch ein kurzes Zwiegespräch mit dem Kopfpolster – so lange, bis einen die Sonnenstrahlen endgültig wachkitzeln und aus der Kiste werfen. Noch ziemlich verknautscht runter ins Café, ein bisschen herumphilosophieren, gescheite Zeitungskommentare lesen und dann gemächlich ins Bad radeln. Das Leben könnte so schön sein!
Stattdessen kirschbeermarmeladisiere ich mich hier rauf auf den Berg. Kirschbeermarmelade … die nächste Unklarheit an diesem Morgen. Es gibt Kirschenmarmelade, es gibt Erdbeermarmelade, wieso aber mein Hirn mir jetzt seit zirka Höhenmeter 1.097 eine nichtexistente Kombination der beiden wie ein Mantra diktiert, bleibt meiner Ratio verborgen. Man muss ja nicht alles verstehen, schon gar nicht sich selbst.
Ich habe also an diesem Morgen gemäß der allgemein ausgebrochenen Wanderlust rund um mich herum meinen Hedonismus in der Vorratskammer eingesperrt und mich in praktische Funktionskleidung gezwängt. Sehr sportlich, hat der Spiegel gesagt. Aber sehr unvorteilhaft, hab ich zurückgeheult. Normalerweise trage ich nämlich Schwarz, nur wenn ich übermütig bin, mische ich etwas Weiß darunter. Dezent, versteht sich.
Wer heute gut ausgerüstet wandern gehen will, sollte aber besser ein Freund von Knallfarben sein. Wie strahlende gelbe, rote, rosa oder blaue Pünktchen bewegen sich die Wandersleute im dritten Jahrtausend durch die Natur, die ja ihrerseits selbst im Sommer eher gedeckte Farben trägt.
Vielleicht werfen sich die Menschen in buntes Zeugs, um besser gesehen zu werden. Nicht weil sie Angst hätten, irrtümlich vom Jäger abgeknallt zu werden, sondern eher um den anderen zu signalisieren: Du bist nicht allein in der wilden Natur, ich bin auch noch da. Dabei ist doch gerade die Einsamkeit ein Teil des Spiels, das uns auf die Berge treibt.
Der zweite Teil hat etwas mit Freiheit zu tun.
Was, das kann ich allerdings gerade nicht erkennen. Die Ferse zwickt im Bergschuh und verlangt dringend nach einem Blasenpflaster, die Zunge klebt am Gaumen, aber die Wasserflasche steckt irgendwo im Rucksack, wo ich jetzt nicht hingelange. Und zur Kirschbeermarmelade in meinem Kopf hat sich musikalisch ein „Atemlos“ von Helene Fischer dazugetaktet. Wo das herkommt? Ehrlich, ich kann Ihnen das nicht sagen. Ich wüsste nicht einmal, ob ich seinerzeit das Lied mit zugebundenen Augen bei „Wetten, dass …?“ erkannt hätte. Und den mir nicht bekannten Text reimt sich mein Hirn selbst zusammen. Nur der Refrain sitzt.
Denken und Gehen, sagte der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard einmal, sind zwei durchaus gleiche Begriffe. Sein Gedankengang endete ungefähr mit der Feststellung, dass wer vorzüglich geht auch vorzüglich denkt und umgekehrt. Mit Kirschbeermarmelade und Helene Fischer im Kopf müsste ich demnach auf dem Bauch den Berg hinaufrobben.
Robben wäre übrigens gerade gar nicht schlecht. Zu meinen Füßen breiten sich Heidelbeeren aus wie ein blaugrüner Teppich. Dazwischen blitzen fürwitzig ein paar Walderdbeeren rot durchs grüne Moos, und die Tannen duften besser als jeder Badeschaum. Großartig, denke ich, während sich meine Lippen heidelbeerblau färben und ich einen tiefen Atemzug von der Bergluft nehme. Gleich bist du oben, sagt die Wanderkarte, und da sehe ich auch schon das Gipfelkreuz. Plötzlich sind die Beine erstaunlich leicht, und der Blick löst sich aus seiner beengten Sicht.
Ich bin oben. Ein kleines knallfarbenes Pünktchen in einer großen Welt, die sich im 360-Grad-Panorama unter mir ausbreitet. So schön, so fulminant, so einzigartig, dass ich am liebsten nie mehr von hier wegmöchte. Das ist Freiheit, flüstert die Welt, und Hirn und Körper danken artig. Kirschbeermarmelade und Helene Fischer sind irgendwo auf dem Weg verloren gegangen.

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