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Kaisertal

Servus Magazin - August 2015

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UND ÜBER ALLEM THRONT DER KAISER

Wir wandern. Es geht gar nicht anders. Das Tiroler Kaisertal mitten in der atemberaubenden Kulisse des Wilden Kaisers ist für den herkömmlichen Menschen nur per pedes zu erreichen.

Foto © Peter Podpera

Es war einmal ein Tal, das lag versteckt in den hohen Bergen und wer dorthin wollte, der musste zunächst 282, manche behaupten sogar 285, Stufen überwinden. Oben angelangt wurde er nicht nur mit einer bilderbuchhaften Naturkulisse belohnt, sondern auch mit einer sagenhaften Stille. Kein Autolärm störte die Ruhe, wer hier eine der Hütten besuchen wollte, musste schlicht und einfach zu Fuß gehen. Es war einmal – und es ist noch immer so. Obwohl nicht ganz.
Am 31. Mai 2008 wurde der Anna-Tunnel eröffnet, und damit das Kaisertal (820 m) als letztes bewohntes Hochtal Europas an ein Straßennetz angeschlossen. Sogar der amerikanische TV-Sender CNN war damals live dabei, erzählen die Kaisertaler heute noch mit leichtem Erstaunen, in das sich etwas Unsicherheit mischt. Einerseits war man ja stolz über die weltweite Beachtung. Andererseits wurde man das Gefühl nicht los, als Hinterwäldler abgestempelt zu werden. Man lebte hier zwar abgeschieden, aus der Welt war man deshalb aber noch lange nicht. Es gab die Stufen, es gab die Materialseilbahn, es gab Strom, Telefon, Internet und sonst noch alles, was der Mensch im 3. Jahrtausend glaubt, zum Leben zu brauchen.
Die neue Straße machte lediglich den Alltag der etwa 35 Bewohner des Kaisertals etwas leichter, die seither mit dem Auto zufahren dürfen. „Allerdings nur zweimal am Tag“, sagt Marianne Steinbacher, unsere Wanderführerin aus Schwoich, mit der wir die Stufen hinaufstapfen und dabei längst zum Mitzählen aufgehört haben. Mein Schwiegervater, rüstige 92, sagt Marianne, ist seinerzeit noch mit den Eseln ins Kaisertal säumen gegangen. Vorzugsweise bis zum Pfandlhof, weil dort seine Liebste, also Mariannes Schwiegermutter, als Zimmermädchen gearbeitet hat. Auch Marianne und ihr Mann Heinz wanderten in jungen Jahren unzählige Male ins Tal, um dann in den schroffen Felswänden des Wilden Kaisers zu klettern. Heute, sagt die 59-Jährige, reichen ihr privat die Klettersteige im Zahmen Kaiser, und beruflich ist sie sowieso dauernd auf Wanderschaft in der Gegend. Selbst Hubert von Goisern ließ sich von ihr den Weg bis zum Hinterkaiserhof zeigen.
Soweit sind wir noch nicht, wir sind aber immerhin bereits bei der Neapelbank angelangt und haben nur mehr ein paar Stufen vor uns. „Neapel sehen und sterben“, notiert Geheimrat Goethe einst in seiner „Italienischen Reise“ bei der er auch durch Tirol kam. Zwar nicht durchs Kaisertal, trotzdem erwählte man ihn und seinen Spruch als Paten für die Bank, auf der der Wanderer Luft holen und sich dabei am Blick über Kufstein und weit hinein ins Inntal ergötzen kann. Grandios, auch wenn von Neapel natürlich nichts zu sehen ist.
Da unten, sagt Marianne, und zeigt in die Schlucht, durch die sich der Kaiserbach schlängelt, liegt die Tischoferhöhle. Geräumige 40 Meter lang und über acht Meter hoch haben hier nach Bären, Wölfen und Höhlenlöwen in der jüngeren Steinzeit auch Menschen Unterschlupf gefunden. Was von den 30.000 Jahre alten Zeitzeugen wie Skelette, Bronzeschmuck, Keramikscherben und Werkzeuge übrig geblieben ist, ist heute im Heimatmuseum in Kufstein ausgestellt.
Wir aber haben jetzt den Kaisertalaufstieg geschafft und marschieren zielstrebig dem ersten Haus, dem Veitenhof, entgegen. Das Frühstück im Gasthaus hat einen legendären Ruf, allein deswegen betreibt so manch Kufsteiner oder Ebbser gerne Morgensport mit Stiegensteigen. Zu uns kommen sie aber auch zum Feiern, sagt Otto Pirchmoser, und bleiben über Nacht da. Vor vier Jahren hat er das Haus übernommen, nachdem es davor zehn Jahre leer stand und ein neuer Pächter relativ bald wieder aufgab, weil man sich das doch alles viel einfacher vorstellt, als es dann ist. Der Zufall brachte die Kunde vom verwaisten Veitenhof zu Otto Pirchmoser, einem gelernten Kellner, der schon als Jugendlicher von einem Berggasthaus träumte. Im Kaisertal war er allerdings erst mit 22 das erste Mal.
Ich bin ja ein Zuagraster, sagt er und meint damit, dass er auf der anderen Seite des Wilden Kaisers in Ellmau geboren wurde, ein paar Kilometer weiter in Schwoich aufwuchs und schließlich mit 15 ganze 15 Kilometer weiter nach Ebbs übersiedelte. Gleich nach der Lehre, sagt Otto Pirchmoser hatte er die Chance auf Selbstständigkeit und einen Vertrag für ein großes Hotel in Händen. Doch seine Frau Gitti wurde schwanger, also hat er die Schneid verloren und verdingte sich weiter als Kellner. Jetzt ist er 51 und sitzt stolz im frisch renovierten Veitenhof, wo sich seit Otto Pirchmosers Übernahme die Kaisertaler wieder jeden Montag zum Stammtisch einfinden.
Zum Kartenspielen wiederum trifft man sich gerne beim Pfandlwirt, ein paar Gehminuten weiter drinnen im Tal. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts ist der Hof in Besitz der Familie Schwaighofer, die aus Erl hierher zog. So wie das Haus heute dasteht wurde es nach einem Brand 1922 errichtet, in einer Zeit als der Pfandlhof das berühmteste Wirtshaus Tirols war. Einerseits weil die drei Brüder Sepp, Toni und Thomas Schwaighofer Ende des 19. Jahrhunderts den Alpin-Tourismus auf dieser Seite des Wilden Kaisers begründeten. Vielmehr aber noch wegen ihrer Schwester Maria, der Pfandl-Moidl, die als schönste Frau Tirols galt. Legionen von Verehrern pilgerten ins Tal, betört von den nachtschwarzen Augen und der glockenhellen Stimme der Moidl blieben sie dann gerne noch ein wenig länger. Allein es nutzte keinem etwas. Es sind schon Schönere als ich ledig gestorben, soll sie gesagt haben, und bis zu ihrem Tod 1937 einzig ihrem geliebten Kaisertal treu gewesen sein.
Als ich zu Lichtmeß 1956 zum Arbeiten hergekommen bin, sagt Senior-Chefin Frieda Schwaighofer, war es sehr ruhig im Tal. Holzarbeiter, Jäger und ein paar Wanderer durchstreiften die Wälder und kehrten beim Pfandlwirt ein, wo man mit einer eigenen Landwirtschaft autark lebte. In die Stadt runter, sagt Frieda Schwaighofer und meint damit Kufstein, ging man nur zum Zahnarzt und vielleicht noch zum Friseur. Und natürlich ins Krankenhaus. Bei der Geburt des ältesten Sohnes, sagt sie, musste sie noch mit der Materialseilbahn runter und ins Spital gefahren werden. Bei den beiden folgenden Kindern machte sie sich dann schon rechtzeitig bei Einsetzen der Wehen auf den Weg, lief die Stufen hinab und wurde unten von der Rettung in Empfang genommen. Wenn du hier herinnen lebst, sagt sie und ihr fester, klarer Blick zeugt von einer gehörigen Portion Lebensweisheit, dann weißt du einfach, wann es Zeit ist aufzubrechen.
Das wusste vielleicht auch Martin Schiefer, der als Wegmacher-Martin in die Annalen des Kaisertales einging. Er sorgte bis zu seinem Tod im hohen Alter von 89 Jahren unermüdlich für einen einwandfreien Aufstieg über die Stufen ins Tal. Dass er sich ausgerechnet im März 2007 von dieser Welt verabschiedete, als der Spatenstich für den Tunnel erfolgte, hält man hier natürlich nicht für einen Zufall. Aus Dankbarkeit für seinen Einsatz jedenfalls hat man ihm eine Gedenktafel in der Antoniuskapelle gewidmet.
Die Kapelle wurde 1711 ebenfalls aus Dankbarkeit errichtet, sagt Wanderführerin Marianne, weil die Kaisertaler einen Einfall der Bayern 1703 relativ glimpflich überstanden hatten. Einen Überfall von Vandalen 1985 überstand die Kapelle gar nicht glimpflich. Wir haben sie renoviert, sagt Toni Schaffer vom Hinterkaiserhof gleich nebenan, und ihr dabei ein wetterfestes Kupferdach verpasst.
Schwieriger war allerdings die Renovierung des Hinterkaiserhofes selbst, der datiert mit 1224 als ältester Hof im Tal gilt. Der Ursprung des Erbhofes bestand noch aus Lehm und Bachsteinen, sagt Toni Schaffer, der hölzerne Dachfirst immerhin schon aus 1850. Damit möglichst viel Altes erhalten bleibt, haben Toni Schaffer und seine Frau Barbara, eine Zugereiste aus der Stadt, das Haus auf Stelzen gestellt und unten herum gemauert. Eine Hundsarbeit, sagt Toni Schaffer, aber notwendig, weil wir die Stube nicht mehr derheizen konnten und isolieren mussten.
Wenn man hier aufgewachsen ist, sagt er und hält uns seine kräftigen Hände unter die Nase, dann lernst du alles selber zu machen. Dafür brauchst du aber einen starken Willen, sagt er dann als wir uns auf der Holzbank vorm Haus mit einem Speckbrot stärken, und viel Geduld. Der mittlerweile letzte Vollerwerbsbauer im Kaisertal hat auch sämtliche Möbel selbst gebaut und käme selbst heute, wo er beim Transport nicht mehr auf die Materialseilbahn angewiesen ist, nicht auf die Idee, welche zu kaufen.
Bis der Tunnel kam, sagt Almerer Helmut Kanz nebenan auf der Hofinger-Alm, bin ich oft dreimal am Tag mit der Kraxen am Buckel herauf gegangen. Jetzt hat er zwar ein Moped, die Kühe der beiden Kufsteiner Bauern aber, die er über den Sommer betreut, muss er nach wie vor über die Stufen rauf- und wieder runtertreiben. Neben den Rindern tummeln sich rund um die stromlose Hütte noch zwei Geißen, vier Hühner und ein Hahn. Und weil der Helmut ein geselliger Mensch ist, schauen immer wieder Freunde in seiner Hütte vorbei, die er mit einer Brezen- oder einer Brennsuppe nach Rezepten seiner Oma bewirtet. Dann wird mit Gitarre und Ziehharmonika aufgespielt, bis der Mond hinterm Kaiser untergegangen und das Bier versiegt ist.
Ein eher ungewöhnliches Instrument für Männer beherrscht Josef Anker, der Hüttenwirt der Ritzau-Alm. So wie bereits sein Vater, Musikant beim „Ebbser Kaiserklang“, hat er einst die Harfe gespielt. Keine Zeit mehr, sagt er heute ohne Bedauern. Zuviel Arbeit, weil sich die einstige Almhütte, in der schon sein Urgroßvater gekäst hat, mittlerweile zu einem stattlichen Alpengasthof gemausert hat. Zuerst hat Josef Ankers Vater in den 1970er Jahren einen Kiosk zur Stärkung für Wanderer hier auf 1.181 Meter Höhe hingestellt. 1985 übernahm der gelernte Tischler die Almhütte über den Sommer, fünf Jahre später gab er seinen Beruf auf und zog mit seiner Familie ganz auf die Alm.
Als Kind war’s nicht so schön, sagt seine heute 27-jährige Tochter Barbara. Während die anderen Kinder nach der Schule unten zusammen spielen konnten, mussten sie und ihr Bruder Thomas wieder rauf auf die Alm. Erst heute, sagt sie während die untergehende Sonne die grauen Felsen vom Wiesberg (1.998 m) übers Gamskarköpfl (2.040m), der Kleinen Halt (2.116 m) und der Gamshalt (2.291 m) bis zum Totenkirchl (2.190 m) in betörendes Rot färbt, erst heute also, weiß sie zu schätzen, wie schön es damals war.
Seit neun Jahren, als ihre Mutter tödlich in den Bergen verunglückte, hilft sie dem Vater in der Gastwirtschaft. Auch der 23-Jährige Thomas ist nach einer Ausbildung zum Zimmerer auf die Familien-Alm zurückgekehrt. Vermutlich auch, weil wer in solch Abgeschiedenheit aufgewachsen ist, recht schnell lernt, was Zusammenhalten bedeutet.
Bei uns schaut jeder auf jeden, bestätigen sämtliche Kaisertaler, die uns auf unserer Wanderung begegnen. Auch die, die nicht hier aufgewachsen sind. Anita Kraisser aus Linz zum Beispiel, die mit ihrem Mann Albin, einem Bergführer und Forstarbeiter aus Kufstein, 2006 das Anton-Karg-Haus, besser bekannt als Hinterbärenbad, übernommen hat. Die beiden hatten sich einst im Kaisertal beim Arbeiten kennengelernt und sprangen buchstäblich wie die Bären ins kalte (Kaisertalbach-)Wasser, als damals mitten in der Saison die Pächterin das traditionsreiche Alpenvereinshaus im Stich ließ. Seither renovieren sie das Haus sukzessive und bringen dabei den ursprünglichen Charme der um 1900 erbauten Hütte wieder zum Vorschein. So versteckten sich alte Holzböden unter dickem Linoleum und wunderschöne Kachelöfen hinter grauen Verschallungen. Die hölzerne Stube wurde 1901 vom süddeutschen Maler und Alpinisten Ernst Platz (1867 – 1940) mit Bildern ausgestattet, weshalb das Haus heute unter Denkmalschutz steht.
Im Gegensatz zu den Häusern vorne im Tal, ist die Hütte nur von Mai bis Mitte Oktober geöffnet. Ab dann, sagt Anita Kraisser, steht die Sonne hinterm Kaiser so tief, dass uns kein Sonnenstrahl mehr erreicht. Das gilt auch für die hinterste Hütte im Kaisertal, das Hans-Berger-Haus. Wer zunächst Anita Kraisser begegnet, würde ihr mit ihrer sanften, freundlichen Art sofort den Titel „Zahme Kaiserin“ verpassen. Ebenso freundlich aber von eher resolutem Naturell ist Silvia Huber, die man rundum als „Wilde Kaiserin“ kennt. Das gefällt mir sehr, sagt die Wirtin des Hans-Berger-Hauses und klopft uns herzhaft auf den Rücken. Obwohl gebürtige Steierin hat sie ihr halbes Leben hier verbracht, da ihr Vater, Bergsteiger-Legende Adi Huber, 1968 ins Kaisertal geschickt wurde, um im Naturfreundehaus eine Bergsteigerschule zu errichten.
Seit ich 5 bin, sagt Silvia Huber, habe ich jeden Sommer im Kaisertal verbracht und bin schon als Kleine mit dem Papa rauf ins Kaisergebirge. Im Sommer bin ich heroben glücklich, sagt sie, im Winter bin ich reisend. Wobei ein Fixpunkt jedes Jahr eine Reise nach Nepal ist. Während ihr Vater bis heute dort den notleidenden Menschen tatkräftig beim Hausbau hilft, unterstützt Silvia Huber ausgewählte Nepalesen finanziell mit Spendengeldern bei der Ausbildung zu Ärzten oder Lehrern. Auch in der Küche im Hans-Berger-Haus wird sie immer von einem Nepalesen unterstützt, der mit seinem Verdienst daheim seine Familie ernähren kann.
Als ich die Hütte vor fünfzehn Jahren übernommen habe, sagt Silvia Huber, haben’s mir zwei Saisonen gegeben. Mittlerweile sind die Kaisertaler und sie zusammengewachsen. Zwei Ochsen verarbeitet sie jeden Sommer, die bekommt sie vom Hinterkaiser-Toni, ansonsten wird alles was sie nicht selber machen kann zum Tunneleingang geliefert und von ihr dort abgeholt. Wir sind die absoluten Nutznießer vom Anna-Tunnel, sagt Silvia Huber, die aber jetzt irgendwie die Gespräche bei der Materialseilbahn vermisst. Jeden Freitag sind die Kaisertaler bis Mai 2008 dort zusammengetroffen, um die bestellten Waren entgegen zu nehmen und die großen und kleinen Probleme ihres Berglebens zu beplaudern. Für größere Gegenstände wie Autos – die Kaisertaler selbst haben sich immer schon motorisiert durchs Tal bewegt –, Traktoren oder Baumaterial hat man sich früher gemeinsam einen Hubschrauber zur Anlieferung geleistet.
Das Leben in der Abgeschiedenheit, sagt Silvia Huber, macht die Menschen zäher, genügsamer und sehr zuverläßlich. Schreib, sagt sie, hart aber herzlich, und lacht dabei fröhlich in die Stille der nach wie vor einsamen Bergwelt. Denn daran hat auch der Tunnel nichts geändert. Also fast nichts.

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