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Lech

Servus Magazin - Juli 2016

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WENN HOCH DROBEN DIE WELT ERWACHT

Rund um Lech am Arlberg haben die Walser einst der Bergwelt eine Kulturlandschaft abgerungen, die wir heute als Natur pur wahrnehmen. Ein Besuch bei ihren Nachfahren, die darauf ihre Zukunft bauen.

Foto © Bernhard Huber

Fünf Uhr aufstehen, dann brechen wir auf und ich zeig euch einen meiner Lieblingsplätze. Das hat Georg Schnell gestern abend gesagt und wir haben mit den Augen gerollt. Ja, hat der Koch, Wanderführer und Oberlecher Pensionswirt noch gesagt, ich bin jetzt auch nicht so der Morgenmensch. Wer aber den ganzen Zauber der legendären Roten Wand erleben will, der muss früh raus. Und während jetzt die Morgennebel wie zarte Schleier über den Lechquellen im Zugertal schweben, um bald von den ersten Sonnenstrahlen gelüpft zu werden, werden unsere Augenlider immer leichter.
Es gibt auch ordentlich etwas zu sehen hier im Sommer. Gemeinhin denkt ja jeder, der Lech am Arlberg sagt, eher in Schwarzweiß, also an meterhohe Schneewände auf denen sich Skifahrer wie kleine Pünktchen bewegen. Jetzt aber dominiert Grün in allen Schattierungen. Zartes Hellgrün der Gräser und Birken an den Ufern der Lech, die hier noch als junger Bach übermütig über die Steine gurgelt. Dazu sattes Grün an den steilen Bergwiesen, die erst in lichten Höhen vom felsigen Grau abgelöst werden, ab und zu durchbrochen vom Dunkelgrün der zierlichen Ebereschen und geduckten Latschen.
Umsäumt von strahlend gelbem Arnika, rosaroten Alpenrosen und blitzblauen Frühlingsenzianen, die im Juli noch auf den Sommer warten, schrauben wir uns einen Pfad hinauf Richtung Formaletsch (2.292 m) vis-a-vis der Roten Wand und haben dabei nicht nur unser Keuchen sondern auch das Pfeifen der Murmeltiere stetig im Ohr. Es ist eine Welt die erobert werden will, die ihre Schönheit nur demjenigen zeigt, der sein Herz in die Hand nimmt und per pedes aufbricht. Kein Lift durchschneidet die Einsamkeit der Bergwelt und die einzige Mautstrasse ins Zugertal wird vorwiegend von Alp- und Berghüttenwirten benutzt.
Einszwei, Einszwei, gibt das Hirn den Füßen den Rhythmus vor und befiehlt jetzt einen Blick nach oben. Da schau, dort, dort drüben schwebt ein Falke oder ist es gar ein Steinadler? Und Vorsicht, jetzt bitte wieder runterschauen, und nicht in das Nest treten, das sich eine Schneehuhn-Familie gut getarnt zwischen den Steinen angelegt hat. Die scheuen Vögel sind Relikte aus der letzten Eiszeit, da stand die 2.704 Meter hohe Rote Wand längst schon so da wie heute. Vor 145 Millionen Jahren war hier ein tropisches Meer, sagt Georg Schnell, und dass deshalb das namensgebende rote Gipsband, das sich quer über die Felswand zieht, reich an Ammoniten ist. Fossilien und Tintenfisch-Verwandte, sagt er schnell, weil uns die Fragezeichen im Gesicht stehen. Anhand ihrer versteinerten Gehäuse läßt sich das Alter von Gesteinsschichten bestimmen.
Wer das Glück hat mit Georg Schnell rund um Lech den Arlberg zu erkunden, wird nicht nur mit besonderen Ausblicken sondern auch mit profunden Einblicken belohnt. Was immer er angeht – und das dürfen wir ihm ruhigen Gewissens unterstellen – macht er mit großer Leidenschaft und dem unbedingten Willen zur Perfektion. Das gilt für seine Küche genauso wie für sein erstes Hobby, das Fotografieren, und sein zweites, die Geologie. Selbst die Eroberung seiner Frau Michaela ist er damals recht zielstrebig und erfolgreich angegangen. Auch nach 29 Jahren strahlen sich die beiden so innig an, als hätten sie sich erst gestern ineinander verliebt.
Durch Michaela, sagt der gebürtige Montafoner, bin ich ein Beute-Walser geworden. Wann genau die Alemannen aus dem Schweizer Wallis aufbrachen und sich am sogenannten Tannberg zwischen Lech, Warth und Schröcken niederließen ist nicht genau bekannt. Die ersten urkundlichen Erwähnungen stammen jedenfalls aus dem 14. Jahrhundert. Die Walser errichteten ihre Siedlungen oberhalb der Getreidegrenze und setzten ganz auf Vieh- und Milchwirtschaft. Um genügend Futter für ihre Tiere zu haben, begannen sie die Wälder zu roden und schufen so eine Landschaft voll blühender Bergwiesen und saftiger Alpmatten, der man heute nicht mehr ansieht, dass da einst Menschenhand mit im Spiel war.
Sie waren mutige Alpen-Pioniere, sagt Michaela Schnell, weil sie sich in den höchsten Regionen dem Unbill der Natur widersetzten. Meine Großmutter ist noch in Bürstegg aufgewachsen, sagt sie, einem Weiler auf 1.716 Metern und einst die höchstgelegenste Siedlung Vorarlbergs. 68 Walser lebten früher hier, die letzten zogen Ende des 19. Jahrhunderts runter ins Lechtal. Es gab kein Holz mehr und die Winter waren zu hart zum Überleben, sagt Franziska Burtscher, zu der alle nur „die Franziska“ sagen. „Der Norbert“ ist ihr Mann und beide gehen sie auf die achtzig zu, obwohl man ihnen gut und gerne zwanzig Jahre weniger gibt. Die beiden Alp-Hirten aus Bludenz kamen vor 24 Jahren erstmals zum Viehhüten über den Sommer auf den letzten verbliebenen Hof in Bürstegg.
Wir wollten es uns ein Jahr anschauen, sagt Franziska, es ist aber so ein wundervoller Platz, also haben wir uns noch zehn Jahre gegeben. Mittlerweile können sie sich ihr Leben ohne Bürstegg nicht mehr vorstellen, obwohl das übersommern im 500 Jahre alten Walserhaus recht karg ist. Immerhin gibt es seit drei Jahren ein Mini-Kraftwerk, um täglich frühmorgens und abends eine Stunde lang die Glühbirnen mit Strom zu versorgen. Dafür haben wir sechs Fernseh-Programme, sagt Norbert und schlägt schallend lachend mit den Handflächen auf den Holztisch. Da schau, sagt er und zeigt in der Stube rundum, jedes Fenster eine andere Sendung. Und wirklich, da winken sie herein, das Wösterhorn (2.310 m), die Schäferköpfe (2.416 m), die Rappenspitze (2.412 m) und die Mittagsspitze (2.370 m) im Osten, sowie das prägnante Karhorn (2.418 m) und das Wartherhorn (2.256 m) im Norden.
Am Abend, wenn sie so glühen, sagt Franziska, überströmt mich eine große Dankbarkeit. Da komme was wolle, da geht’s mir gut, setzt sie leise nach und wirkt dabei wie ein Fels im Gebirge, von dessen Seite man nicht mehr weichen möchte. Vor allem nicht, wenn ein Wetter kommt. Wenn sich die Finsternis zusammenbraut, der Himmel grollt und der Wind heult, dann zieht sich auch die Hirtin zur Beruhigung ins Kirchlein St. Martin gleich nebenan zurück. Seit 1695 trotzt die höchstgelegene Kirche Vorarlbergs allen Himmelsfluten, der eigene Pfarrer ersparte früher den Walsern den mühsamen Kirchweg am Sonntag nach Lech. Heute kommt der Lecher Pfarrer zweimal im Jahr herauf. Zu Johanni (24. Juni) um Alpe, Vieh und Hirten zu segnen, und zur Messe an Mariä Himmelfahrt (15. August). Aber nur bei Schönwetter, sagt Franziska, denn hier heroben kann es dann schon einmal schneien.
Jetzt gerade aber ist es in Bürstegg so, als wäre ein Postkartenidyll Realität geworden. Blauer Himmel, weiße Schäfchenwolken, zartes Kuhglockengebimmel und sanft wogende Wiesen mit Kräutern und Blumen rund ums Haus. Mein Liebling, sagt Franziska, ist die Brennnessel, die Königin der Heilpflanzen. Nach altem Wissen sammelt und benutzt sie Pflanzen und Wurzeln und wer auch immer in der Gegend sich für das Thema interessiert, schaut bei ihr vorbei.
Ich bin bei einer Wanderung auf Franziska gestoßen, die gerade Kräuter für ein krankes Kalb gesucht hat, erzählt Veronika Walch. Da war sie vierzig und wußte plötzlich, dass die Kräuterheilkunde ihres ist. Heute ist sie Mitglied der Lecher Kräuterrunde um Sternekoch Thorsten Probost, die überliefertes Wissen erhalten und weitergeben möchte. Die braucht keine Ausbildung haben sie als Kind zu mir gesagt, die heiratet eh, sagt Veronika Walch und grinst von einem Ohr zum anderen, weil sie heute 56, noch immer ledig und vielseitig ausgebildet ist.
Wir wandern über die Wiesen bei den Gipslöchern hinter Oberlech, die für ihre vielfältige Flora bekannt sind. Und während wir Storchenschnabel (für Kinderwunsch), Goldrute (gut für Manneskraft), Frauenmantel (bei Frauenleiden) und Augentrost (für Sehkraft) pflücken, erfahren wir auch etwas über die Kindheit im Lech der 1960er Jahre. Dass es nur eine Volks- und keine Hauptschule gab zum Beispiel und viele ab der 3. Klasse nach Feldkirch ins Internat mussten. Dass die Eltern sich vorwiegend um die Touristen kümmerten, man aber trotzdem nie allein war, weil man minimum fünf Geschwister hatte. Und dass man sich auf den Winter mit Skifahren freute, man dann aber oft kein Bett hatte, weil es von den Eltern an Gäste vermietet war.
Im Tal haben’s keine Zeit mehr, sagt Sigi Jochum und klopft mit dem Axtnacken einen Fichtenast schräg in die Wiese. Wir stehen am sogenannten Boda, einer Alpe am Weg zur alten Walsersiedlung Schöneberg, wo nur noch ein paar Hollerbuschen die Stellen der einst so stolzen Höfe verraten. Am Boda komm ich zum Nachdenken, sagt Sigi Jochum, und manchmal kommt auch einer vorbei der noch Zeit zum Reden hat. Sein Großvater war der letzte, der seinerzeit von Bürstegg ins Tal zog, heute ist Sigi einer der letzten der noch Steckenzäune in alter Walser Tradition bauen kann, zwischen denen man das Vieh auf die Alpen leitet. Andere gehen Golfspielen, sagt er während er den nächsten Ast prüfend in den Händen wiegt, ich mach Schindeln und Zäune. Das ist jetzt etwas untertrieben, denn er kümmert sich auch in der Walservereinigung engagiert darum, dass die alte Kultur nicht verloren geht.
In einem Walserhaus, so erzählt er während er nach Augenmaß im exakten Winkel den nächsten Pfosten in den Boden treibt, waren die Schiebefenster an der Unterkante schmäler als oben. Solange du dich als Kind da noch durchzwängen konntest, musstest du nicht bei der Landwirtschaft mitarbeiten. Er weiß auch bei welchem Sternzeichen und Mondstand man das Holz lagern muss, dass der Walser stolz aufs Tiroler Grauvieh ist und die Ziege als Eisenbahnerkuh geringschätzt. Und auch, dass so manch Geschichte über große und kleine Dramen in der Walser Chronik von jeder der riesigen Familien Jochum, Schneider, Zimmermann und wie sie alle heißen, in einer anderen Version erzählt wird.
Ihre ganz eigenen Geschichten erzählt auch Angelika Stark-Wolf. Die Lecherin ist als Mundartdichterin spezialisiert auf Walser Dialekt, weil sie Walser Wurzeln hat und mit einem Walser aus dem Großen Walsertal verheiratet ist. Im letzten halben Jahrhundert ist viel verloren gegangen, sagt sie. Die Einheimischen wurden von den Touristen nicht für voll genommen, wenn sie im Dialekt redeten, also hörten sie auch untereinander damit auf. Seit kurzem aber ist das wieder modern, deshalb freut sie sich, dass immer mehr junge Menschen bei ihr nachfragen.
Sie selbst hätte niemals anders als Walserisch dichten können, da gehen einfach die Wörter, die es auf Hochdeutsch gar nicht gibt, viel tiefer. Huramäntig, sagt Angelika Stark-Wolf, ist so ein typisches Walser Wort. Was für uns jetzt klingt als würde ein Schweizer etwas Obszönes sagen, ist ganz harmlos und verstärkt wie ein „sehr“ das Wort danach. Und wenn der normale Gsiberger üs sagt, sagt der Walser önsch, was soviel wie „uns“ bedeutet. Als Draufgabe gibt es noch ein mistalat, was stinken heißt und wir jetzt bitte nicht persönlich nehmen sollen, weil das mehr für einen Bauern gilt, der gerade aus dem Stall kommt.
Aufgeregt von der Weide auf der Gaisbühelalpe angelaufen kommt ein paar Stunden später der kleine Xaver. Der Stier ist abgepascht, ruft er Stefan Muxel zu und alle die einen Stock halten können, rennen los. Der ist nicht weit, sagt Raingard, die Frau von Stefan. Vermutlich nur einer Kuh nachgelaufen, sagt sie und stellt mit einem amüsierten Lächeln einen Almblumenstrauss auf den Holztisch vor der uralten Alphütte. Auch hier im Schatten der Mohnenfluh (2.542 m) haben die Walser vor Jahrhunderten das Land urbar gemacht, worüber sich das Grauvieh der Muxels auf Vorarlbergs höchstgelegenem Bauernhof in 1.750 Metern Höhe freut. Und die Wanderer. Wären wir Maler, wir würden dieses Bild eines Prototyps von einer Berglandschaft schlicht „Sommermärchen“ nennen.
Seit drei Jahren geht hier im Winter ein Lift nach Warth drüber, sagt Raingard und wir sind ehrlich verblüfft. In Lech gibt es die besten Pistenbauer der Welt, sagt Stefan Muxel, der sich etwas verschwitzt von Stierjagd wieder zu uns setzt. Zum einen wurden sämtliche Stromkabeln unteriridisch verlegt, sodass ab dem Frühjahr nichts den Blick stört. Zum anderen werden die Pisten im Frühjahr naturnah und sanft begrünt. Mit allen Blumen und Pflanzen die auch sonst hier wachsen. Wir nutzen das Wissen unserer Väter, sagt Stefan Muxel, dessen Walser Familie vor vier Generationen aus dem Bregenzerwald hier einwanderte. Alles Immigranten, sagt Raingard mit breitem Grinsen, weil sie selbst aus dem nahen Allgäu stammt. Die Walser haben sich ihre Frauen immer von auswärts geholt, erzählen die beiden. Zur Blutauffrischung.
Als Einwanderin hat man vor fünfzig Jahren auch Kristl Moosbrugger in Lech, man könnte sagen, distanziert beäugt. Die heute wohl bekannteste Hotel-Wirtin vom „Gasthof zur Post“ heiratete aus St. Anton ein. Nur zwanzig Kilometer entfernt, sagt die 74-Jährige, aber in Tirol und mit dem Arlbergpass als Völkerscheide dazwischen. Auf der einen Seite bajuwarische Wurzeln auf der anderen alemanische und walserische. Das Bergleben hat sie aber hüben wie drüben zu einem zähen Menschenschlag geformt. Deshalb ist das Wort Aufgeben in Kristl Moosbruggers Welt ein Fremdwort. Das ihr weder in den Sinn kam als sie das 400 Jahre alte Haus fast zur Gänze abtragen und zur Nobelherberge umbauen ließ und kurz darauf der Sommertourismus in Lech für zwanzig Jahre komplett einbrach. Und auch nicht als 1988 ihr Ehemann Franz bei einer Expedition im buthanesischen Himalayagebiet an der Höhenkrankheit verstarb.
Ich hatte immer Visionen, sagt sie, und führt uns in den Garten hinter dem Haus. Ein verstecktes, riesiges Pflanzenparadies, wie man es im dichtverbauten Ort nicht vermuten würde und das sie Ebra, also Ebene, nennt. Hierher komm ich zum Durchatmen, sagt Kristl Moosbrugger und zwinkert schelmisch mit den Augen. Pensionsstress, seufzt sie, dem sie sich jetzt seit 17 Jahren, in denen sie nur mehr als Graue Eminenz hinter ihrem jüngsten Sohn Florian in der Post wacht, hingibt. Stillsitzen würde aber so gar nicht ihrem Charakter entsprechen, also bricht sie nahezu täglich in die Berge auf. Frühmorgens geht sie los, weil dann ist es noch ganz still und mit Glück ist der eine oder andere Steinbock zu sehen. Immerhin tummelt sich hier die größte Steinbock-Kolonie Europas in den Felsen rundum. Ein erhebender Anblick, sagt Kristl Moosbrugger mit versonnenem Glanz in den Augen, bei uns ist die Natur ein richtiger Verführer. Ja, sagen wir wissend, darum nehmen wir gleich morgen wieder unser Herz in die Hand und brechen zeitig auf um nur ja nichts von diesem Zauber zu verpassen.

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