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PORTRÄTS
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Vinschgau
Servus Magazin - August 2023
DER GUTE ALTE IM HIER UND JETZT
Wo Künstler Paul Flora Ehrenbürger ist, Mäusen der Prozess gemacht wurde und mittelalterliche Gewölbe Erhabenheit ausstrahlen. Ein Streifzug durch Glurns, die kleinste Stadt Südtirols.
Foto © Bernhard Huber
Es ist, als würde man wie von Zauberhand in eine andere Zeit gezogen. Wer sich von Norden der Glurnser Stadtmauer nähert, die dreieckig und trutzig ihr Kleinod beschützt, muss durch einen beinahe winzig anmutenden Durchgang im sonst so mächtigen Malser-Tor schlüpfen und landet direkt im Mittelalter. Optisch zumindest, denn kaum sonstwo ist soviel originale Bausubstanz erhalten, mit schattigen Laubengängen und dicken, auf Hochglanz gebrachten jahrhundertealten Gemäuern, in die wieder junges Leben eingezogen ist.
Nun ist es nicht so, dass der Vinschgau zwischen Meran und dem Reschenpass nicht reich an herausgeputzten alten Dörfern und monumentalen Burgruinen wäre, die umkränzt von Dreitausendern für pittoreske Alpenidylle sorgen. Doch während allerortens Stadtmauern und uralte Häuser modernen Expansionen weichen mussten, war man in Glurns schlichtweg zu arm um Neues aufzubauen.
Die einstige Armut ist heute unser Reichtum, sagt Stadtführer Adolf Wittmer, während wir von den Wehrgängen hoch droben auf der Mauer auf die blühenden Gärten und Parkanlagen runter blicken, die im alten Wehrgraben angelegt wurden. Bis in die 1970er Jahre lebten hauptsächlich Landwirte mit ihrem Vieh in den Häusern, die weder das Geld zum Abreißen noch zum Restaurieren hatten. Doch dann erkannte der Tiroler Künstler Paul Flora den historischen Wert seiner Geburtsstadt. Dank seiner Initiative investierte das Land in die Restaurierung und siedelte die Bauern vor die Stadtmauern. In die hergerichteten Wohnräume über kleinen Geschäftsläden zogen Familien aus der Gegend, die mindestens 20 Jahre nicht weiterverkaufen durften. Seither ist die Bevölkerung von Glurns um 300, also auf 900 Einwohner angewachsen, Tendenz steigend.
Den Retter der Stadt, Paul Flora, begegnet man hier auf Schritt und Tritt. Er wurde 1922 im hiesigen Spital geboren, das heute ein Amtsgebäude ist, es gibt eine Paul-Flora-Gasse und auf so manch alter Mauer kann man eine Vignette mit seinem typischen Feder-Strich entdecken. Als er fünf Jahre alt war, entschieden sich seine Eltern im italienischen Faschismus nach Innsbruck zu gehen. Seiner Kindheitsstadt blieb der berühmte Zeichner aber immer verbunden. Auf seinen Wunsch liegt er hier begraben und im Kirchtor-Turm hat man dem einzigen Ehrenbürger eine Dauerausstellung eingerichtet.
Ein paar Schritte entfernt, steht das Flurin, eines der ältesten Gebäude mit romanischen Grundmauern, teilweise 800 Jahre alt. Es diente schon als Rastplatz für Adelige – Kaiser Maximillian hat hier übernachtet –, es war einmal eine Bank, die meiste Zeit aber war es Gericht und Gefängnis. In die Geschichte ging der Prozess ein, den man im Mai 1520 den Wühlmäusen machte. Diese erschwerten damals den Stilfser Bauern das Leben, also wurden sie dazu verdonnert Richtung Schluderns auszuwandern. In Abwesenheit, allerdings. Inwieweit sich die Mäuse dem Urteil beugten, ist nicht bekannt.
Vor knapp hundert Jahren wurde der Gerichtssitz ins nahe Schlanders verlegt, danach stand der eher klobige Turm öfters leer, zum Schluss war ein Tischler drin, der vor sieben Jahren in Pension ging. Das ist die Chance meines Lebens, dachte ich, sagt Thomas Ortler, während er an der sonnigen Flurin-Mauer lehnt und seinen Espresso nippt.
Mit einem Master in Wirtschafts- und Sozialgeschichte ausgestattet und einem großen Talent fürs Kochen trommelte er die Familie zusammen und renovierte den Turm, ohne ihm seinen Charme zu nehmen. Wir wollten die Substanz erhalten, sagt Thomas Ortler, aber drinnen nicht künstlich Historisches imitieren. Die Zimmer sind ein gelungener Mix aus Modern und Alt, genauso wie das Restaurant, das bereits zu den Besten Südtirols zählt.
Seine Liebe zum Kochen entdeckte Thomas Ortler in den Semesterpausen, als er bei Paco Perez in Berlin und Konstantin Filippou in Wien jobbte. Auch von seiner Mutter und seinem Opa hat er einiges mitbekommen, vor allem die Naturverbundenheit, die sich in seinen Gerichten widerspiegelt. In seiner Küche landet nur, was es gerade in der näheren Umgebung gibt und das in bester Qualität und ohne Schnickschnack. Perfektion ist, sagt Thomas Ortler, wenn man nichts mehr weglassen kann. Weder im Ambiente noch am Teller.
Einer der Baumeister, der in Glurns denkmalgeschützte Bauwerke restaurierte, ist Albrecht Ebensperger. Seine wahre Leidenschaft ist aber Whisky, den er zunächst im Kleinen daheim braute. Mittlerweile hat sich die Liebhaberei zu einem ernsthaften Familien-Projekt und Italiens einziger Whisky-Destillerie ausgewachsen. Weithin sichtbar vor den Toren von Glurns steht der ziegelrote moderne Kubus-Bau mit Luken im Schachbrettmuster, nach Vorlage der traditionellen Stadlfenster der Gegend. Es kommt nicht selten vor, dass die Ästhetik Besucher anlockt, die dann mit einer Whisky-Flasche wieder rauskommen. Kopf und Herz der nach dem Vinschgauer Fluss Puni benannten Brennerei ist heute Sohn Jonas Ebensperger. Gebrannt wird mit Gersten-, Roggen- und Weizenmalz aus dem Vinschgau, der Whisky reift dann mindestens drei Jahre in Holzfässern. Das Südtiroler Klima mit kalten Wintern und warmen Sommern begünstigt eine schnellere Reifung, sagt Lena Klopp, die Partnerin von Jonas Ebensperger, die gerade eine Probe aus einem der Fässer zieht.
Nur in diesem Klima und nur hier rund um Glurns wachsen auch die Palabirnen. Eine uralte Sorte, aromatisch, aber ziemlich bunkert, die wegen ihres Aussehens oftmals den attraktiveren Äpfeln weichen musste. Uns bringen sie die Bauern vorbei, die noch Bäume haben, sagt Bäckermeister Pius Schuster. Diese werden dann händisch, so wie früher zu Schnitz verarbeitet, also in dünne Spalten geschnitten und getrocknet, um dann mit Sauerteig zu Palabirnenbrot gebacken zu werden.
Eine Spezialität, die Pius Vater, Peter Schuster, in einer Not erfand. Als eines Tages Kunden nach einem Früchtebrot verlangten und nur mehr Omas Schnitz am Dachboden trocknete, startete er damit einen Versuch. Es hat so gut geschmeckt, sagt Pius, dass wir es noch immer backen. Er führt mit seinem Bruder Franz die Backstube in dritter Generation, die zunehmend die alten Dorfbäckereien hier ersetzt, die keiner übernehmen will. Die beiden waren von Anfang an beim Projekt Regiokorn dabei, einem Zusammenschluss von Südtiroler Bauern, Bäckern und Müllern, die den Bauern eine fixe Korn-Abnahme und einen fairen Preis garantiert. Mit diesem Mehl machen die Schuster-Brüder vom Paarl übers Vinschgerl bis zum Palabirnenbrot alles händisch und so wie es sich gehört, mit langer Teigführung.
Qualität und Regionalität wird auch im Bistro Vinterra großgeschrieben. Wir haben 5 Hektar Acker mit Bio-Gemüseanbau, sagt Peter Grassl und bindet sich die Schürze um den Bauch, weil er gleich Servier-Dienst hat. Gemeinsam mit einer Gruppe Vinschger Bürger hat der Sozialwissenschaftler die Malser Sozialgenossenschaft initiiert, bei der beeinträchtigte und Menschen mit Problemen auf die Arbeitswelt vorbereitet werden. In der Landwirtschaft und seit vier Jahren auch im angeschlossenen Lokal. Hier wird von Dinkel, über Kohlrabi bis zu Himbeeren alles tagesaktuell und köstlich zubereitet.
Während das Vinterra in einem ehemaligen Stadl logiert, ist der Mohrenwirt etwas weiter westlich in einem ehemaligen Gotteshaus des Klosters Marienberg untergebracht. Wie ein Adlerhorst thront das Benediktinerkloster auf 1.350 Metern auf einem Berghang am Ende des Vinschgaus mit der Schweiz im Rücken. Bei uns im 1. Stock gab es das Herrenstüberl, wo früher die Herren vom Kloster gefeiert haben, sagt Rudi Theiner, dessen Vorfahren 1665 das Wirtshaus in Burgeis eröffneten. Bei der Total-Renovierung vor 40 Jahren wurde die Stütze erneuert, die das Stüberl nach unten absichern musste, damit die honorigen Herren nicht durchbrechen. Es gibt keinen rechten Winkel im ganzen Haus, sagt Rudi Theiner, teilweise wurde einfach nach den Straßenverläufen angebaut. In der Wirtstube selbst lagen drei Vertäfelungen und mehrere Fensterstöcke übereinander und erzählten die Geschichten ihrer Zeit. Eine Zeit des Wandels und der Armut, weil die prosperierende alte Salz-Handelsroute über den Reschen durch den Vinschgau ab dem 15. Jahrhundert vom freigesprengten Weg über den niedrigeren Brenner abgelöst wurde. Erst in den letzten Jahrzehnten steht es wieder besser um diesen hintersten Zipfel Südtirols. Vielleicht auch, weil viel Altes erhalten blieb, dessen Substanz mit Würde den Weg in die Moderne ebnet.