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Virgental

Servus Magazin - Jänner 2014

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GESCHICHTEN AUS DEM STILLEN TAL

Mit der Natur und mitten in den Bergen leben, anders geht es gar nicht im hintersten Winkel des Osttiroler Virgentales. Darum hat vieles, was schon die Urururgroßeltern ersannen, heute noch Sinn.

Foto © Marco Rossi

„Do schau auffe! Siachst de Gamsen? Solang de do stengan, san ma sicha.“ Friedl Steiner stemmt seinen Holzstecken schräg in die Höhe und zeigt ins Nichts. Ins weiße Nichts. Wir stehen auf knapp 2.000 Metern Höhe umgeben von einer dicken weißen Schneedecke, über unseren Köpfen hängen dichte weiße Wolken aus denen es jetzt schon seit zwei Tagen heftig rausrieselt. Alles ist eingehüllt, oben und unten verschwimmen nahtlos ineinander und das spektakuläre 3-D-Panorama der Venedigergruppe ist hinter einem monochromen Vorhang verschwunden. Nur ab und zu können sich die steilen Felswände gegen das Wolkendickicht durchsetzen und hoch droben zarte graue Linien ins Weiß zeichnen.
Die Gemsen also sind in dieser weißen Unendlichkeit zwei stecknadelgroße Pünktchen weit über der Baumgrenze und knapp unterm Rand, ab dem nur mehr der blanke Fels regiert. Für die nächsten paar Stunden sind sie unsere natürliche Warnanlage, denn das Wetter ist, um es vorsichtig auszudrücken, suboptimal zum Heuziehen. Zu viel Schnee auf lockerem Untergrund – diese Schneebrett-Gefahr kann hier in Prägraten, dem hinteren Ende des Virgentals, jedes Kind richtig einschätzen. Die acht gstandenen Männer und die eine gstandene Frau, mit denen wir im Morgengrauen vom Oberbichlerhof weg auf die Wunalm losgezogen sind, natürlich auch. Aber was getan werden muss, muss getan werden, so wie es die Bergbauern seit Jahrhunderten hier getan haben. Und würde es brenzlig werden, würden die Gemsen rechtzeitig Schutz suchen und sich die Heuzieher sofort wo unterstellen.
Im Sommer haben sie die steilen Bergwiesen mit Sensen abgemäht und diese Bergmahd hier in der Hütte gelagert. Kräftiges Bergheu mit dem Aroma von Kräutern und Almblumen, ein Schatz, der jetzt im Winter, wenn drunten in den Ställen das Heufutter zur Neige geht, geborgen wird. Da helfen dann alle mit, die Zeit und Kraft haben, auch die, die keinen Hof haben. So wie Friedl Steiner, Bergretter und ehemaliger Hüttenwirt der Essener-Rostock-Hütte im Maurertal, und ein paar Holzfäller.
Eine Stunde dauert der steile Aufstieg durch unberührten Tiefschnee, bei dem die Männer alles was sie jetzt brauchen im Gepäck haben: Reisigbündel, Hanfseile mit „Kloiben“ – hölzerne Karabiner – und „Schloafen“, breite Holzkufen, die bei der Fuhr hinunter mit dem Heu nur im flachen Gelände zum Einsatz kommen. Acht „Fuder“, riesige Heubuckel, von denen jeder an die 250 Kilo schwer ist, baut die Truppe heute zusammen. Mit unzähligen Handgriffen, viel Geschick und einer komplexen Technik aus Aufeinanderschichten, Zusammenziehen und Festschnüren, so wie sie schon seit Generationen von den Vätern an ihre Söhne weitergegeben wird. Zum Schluss wird jeder Ballen fein säuberlich mit einem Rechen frisiert, damit die abstehenden Fuzeln am Weg nicht verloren gehen.
Bevor die rasante Tiefschnee-Fahrt in der Direttissima Richtung Tal losgeht, gibt’s zur Stärkung eine Speckjause samt selbstgebrannten Schnaps. Die können die Männer brauchen, denn jeder lenkt seinen Heubuckel lediglich mit einem Hanfseil, gebremst wird mit einem Holzstecken. Während der normale Mensch, also wir, die Steilhänge nur auf dem Hosenboden rutschend bewältigt, manövrieren die Männer ihre Fuhre mit viel Gespür und noch mehr Kraft ins Tal, wo sie dann beim Oberbichlerhof mit dem Traktor auf die einzelnen Höfe verteilt wird.
Auf 1.525 Metern Höhe liegt der Oberbichlerhof und ist damit der höchstgelegene Bauernhof der Osttiroler-Gemeinde Prägraten. Täglich zwei Kilometer habe er von hier zu Fuss zur Schule gehen müssen, sagt Adolf Berger. Anstrengend war es aber nur, wenn er manchmal zweimal am Tag zur Kirche runter musste. Der Adolf sei aber so bärenstark gewesen, ergänzt Friedl Steiner, dass sich die Schwächeren an seine Schultasche gehängt und mitschleppen hätten lassen.
Auch heute in seinen Sechszigern ist Adolf Berger eine stattliche Erscheinung und so etwas wie eine Institution in Prägraten. Seit 1840 ist der Hof in Familienbesitz, Teile der Grundmauern stammen aus dem 14. Jahrhundert. Bergbauern und Selbstversorger seien sie hier immer schon gewesen, sagt Adolf Berger, und dass sich auch jetzt hier alles nur gemeinsam und im Zusammenhang mit der Natur abspiele. Vermutlich weil die Gemeinde bis in die 1930er Jahre völlig abgeschottet und von Virgen aus nur über einen Karrenweg erreichbar war. Auf der anderen Seite Richtung Westen war sowieso immer schon Schluss. Da bilden die Dreitausender der Hohen Tauern eine natürliche Mauer.
Adolf Berger hat von seinem Vater nicht nur den Hof sondern auch eine Schnapsbrennerei mit dem kleinen Brennrecht geerbt. Er darf daher nur eigenes Obst zu seinem eigenen Schnaps brennen. Zwetschken, Birnen, weiße Klaräpfel und Ringlotten, die ihm allerdings oft schon der Wind vor der Ernte raubt. Deshalb geht er im Sommer und im Herbst in die Berge und sammelt Beeren, Kräuter und Wurzeln, aus denen er dann unter anderem seinen berühmt-berüchtigten „Heilkräuterbitter“ brennt.
Auch ein kleines Bauernmuseum gibt es am Oberbichlerhof, das in der ehemaligen Rauchkuchl eingerichtet wurde. Neben alten Möbeln und einem Clavicord aus dem 17. Jahrhundert, hat Adolf Berger Werkzeuge zusammengesammelt, die die Bauern früher selbst hergestellt haben. Eine vierteilige Mäusefalle zum Beispiel, ein Brechl zum Flachs und Hanf spinnen, eine Seilerziag samt Ochs, womit einst starke Schnüre gedreht wurden. Wenn die Mäuse nicht dran kommen, sagt Adolf Berger, halten Hanfseile ewig, während die aus Kunststoff nach zehn Jahren porös werden. Leider wisse kaum mehr jemand, wie das geht. Auch Flachs, Hanf und Getreide werden nicht mehr angebaut, weil wegen der kargen Erträge längst alle auf Viehwirtschaft umgestiegen sind.
Das wurmt auch Bernhard Berger – Achtung: in dieser Geschichte heißen fast alle Berger oder Steiner. Wenn nicht anders erwähnt, sind sie aber nicht direkt miteinander verwandt – vom Gasthaus Islitzer ganz hinten im Tal. Er begann vor ein paar Jahren wieder so wie seine Urururgroßeltern mit Ross und Pflug ein Feld zu bestellen. Kartoffeln, Flachs, Hanf, Bohnen und Erbsen baut er dort an, auch um die alte Tradition der „Prädinger“, wie sie sich selbst nennen, als Selbstversorger wiederzubeleben. Nur Salz und Eisen kamen früher von draußen, sagt er, das hat die Leute hier zusammengeschweißt. Brannte zum Beispiel früher ein Hof ab, brachten alle Bauersfamilien einen Baum vorbei und halfen beim Neubau mit.
Wer in solch einem sozialen Gefüge aufgewachsen ist, muss mit der Welt draußen erst zurecht kommen. Mit Fünfzehn, sagt Bernhard Berger, sei er dem engen Tal in eine Schule nach Innsbruck entflohen. Ohne Geld stand er dann da, als er von der Polizei beim Fahren mit dem Moped gegen die Einbahn erwischt und zu einer Strafe verdonnert wurde. Niemand hat ihm damals geholfen, was vermutlich mehr schmerzte als die Absenz der Berge und der freien Natur.
Die freie, wilde Natur, die, ginge es nach so manch Prädinger, längst schon zugunsten des Tourismus und von Wasserkraftwerken nicht mehr ganz so frei und wild wäre. Wirtschaftlich war es hier nämlich ein ewiges Auf und Ab und öfters gar nicht rosig. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt Prägraten als ärmste Gemeinde Osttirols und die Prädinger beschlossen geschlossen nach Amerika auszuwandern, was nur durch den Ausbruch des I. Weltkrieges verhindert wurde. Danach entdeckten Deutsche und Briten den Ort als idealen Ausgangspunkt für Bergtouren, in den 1920er Jahren kamen die Wiener Sängerknaben jährlich zur Erholung hierher. Nach dem II. Weltkrieg sorgte der Alpintourismus für Aufschwung, der in den 1980er Jahren aber in der gesamten Region wieder einbrach. Während man rundherum Wälder und Almen Liftanlagen und Skipisten opferte, war das hintere Virgental viel zu steil und zu eng dafür. Also setzt man derzeit auf sanften Tourismus, lockt die Gäste im Winter zum Übernachten ins stille Tal und führt sie gratis ins Skigebiet Großglockner nach Kals.
Natur gerettet, wirtschaftliche Zukunft halbwegs im Griff, könnte man meinen. Wäre da nicht ein Plan für ein Wasserkraftwerk. Vom Großvenedigerkees über die Umballfälle plätschert einer der letzten frei fließenden Gebirgsflüsse der Ostalpen, die Isel, durchs Virgental und spaltet die Prädinger quer durch alle Familien. Eine Volksabstimmung vor eineinhalb Jahren ging zugunsten eines Kraftwerkes an der Oberen Isel aus, seither formieren sich die Gegner. Ihre stärkste Verbündete ist die Deutsche Tamariske, eine als ausgestorben gegoltene Pflanze, die man an den Gestaden der Isel mitten in Prägraten wieder entdeckte. Sie würde ein Kraftwerk nicht verkraften du wieder verschwinden, heißt es.
Glasklar und unschuldig plätschert der Fluss durch die Winterlandschaft, die großen Steine tragen dicke Schneehauben und von ihrer Last tief geneigte Äste bilden ein Spalier von graziler Schönheit. Die Zeit, denkt man, die könnte man hier glatt vergessen. Und ist sie vielleicht gar stehen geblieben?
„Naa“, sagt Lisl Berger, die Bäuerin vom 250 Jahre alten Redlerhof, vehement und dabei lachen ihre Augen amüsiert. „Buttermochen im Holzkübl, des war vor 25 Joar.“ Damals war sie sommers auf der Kerschbaumer-Alm und hat sich zum langwierigen Rühren ein Buch geschnappt, weil es sonst so eintönig gewesen wäre. Heute entrahmt sie die Milch ihrer Kühe in einer Zentrifuge, die Butter wird in zehn Minuten von einer Maschine gerührt. Dann aber wird sie per Hand in kaltem Wasser ordentlich, bitte wirklich ordentlich, durchgeknetet, sonst wird sie zu schnell ranzig. Jetzt noch ausklatschen und in den Holzmodel pressen, der zumindest einen Hauch von Nostalgie verströmt. Auch den Speck macht man am Redlerhof selber. Von glücklichen Schweinen, die mit der Molke vom Buttermachen gefüttert werden und auch im tiefsten Winter durch den Schnee wetzen dürfen. Der Speck wird mit viel Wacholder aus dem Bauerngartel gewürzt und ist so wie die Butter nur zum Eigenbedarf oder für Gäste.
„Wauns fertig san, tu i’s verschenka“, sagt Martha Steiner, die vis-a-vis am Gnochta-Hof Filzpatschen aus Schafwolle herstellt. Zweimal im Jahr werden ihre weißen Tiroler Bergschafe geschoren und die Wolle nach Mittersill zum Kadatschen gebracht. In drei Schichten wird der feine Flaum dann mit Schmierseife über einem „Loascht“, einem Holzleisten, verfilzt. Zum Schluss kommt noch eine Ledersohle drauf, die Martha Steiner aus alten Jankern zurecht schneidet. Eine schöne Beschäftigung sei das, sagt die Fünfzigjährige in leisem Ton, vor allem seit ihr Mann vor sieben Jahren verstarb. Ein leidenschaftlicher Bauer sei er gewesen, was er gottlob an die fünf Söhne im Alter zwischen 14 und 24 weitergegeben habe. Neben Filzpatschen macht die Bäuerin auch Federkielgürtel und Janker für die hiesige Trachtengruppe.
Auch Loden wurde einst auf jedem Hof hier zum Eigenbedarf hergestellt. In einem eigenen Zimmer standen die riesigen Rahmen der Webstühle, im Frühjahr zogen die Weber mit ihren Litzen am Rücken von Haus zu Haus, um den Stoffbedarf fürs ganze Jahr zu decken. Heute ist der 80-Jährige Sebastian Steiner der letzte gelernte Handweber in Osttirol und wird es auch bleiben, weil das keiner mehr lernen möchte. Mindestens drei Jahre brauche man, bis man es kann, sagt er. Und wild dürfe man nicht sein, weil Weben und Geduld, das gehöre zusammen. Allein das Aufspannen der etwa 1.000 Fäden dauert einen halben Tag und muss von drei Männern angegangen werden. In jungen Jahren hat der einstige Wegebau-Arbeiter in einer Stunde zwei Meter Stoff auf seinem mittlerweile hundertjährigen Webstuhl geschafft. Jetzt geht er es bisschen langsamer an, auch weil ihn nach zwei Stunden die Konzentration verlässt. Zum Walken bringt er seine Wollstoffe übrigens zwei Täler weiter nach Villgraten, wo der letzte Lodenstampf Tirols noch in Betrieb ist.
Aus einem anderen Tal, aus Heiligenblut im Mölltal, pilgern jedes Jahr am letzten Samstag im Juli Wallfahrer zu Fuß zur Kirche Maria Schnee herüber. Der Legende nach soll die hiesige Schutzheilige den Heiligenblutern vor hundert Jahren aus ihrer bittersten Not geholfen haben. Errichtet wurde der gotische Bau in Obermauern im vorderen Teil des Virgentales im 15. Jahrhundert von den Görzer Grafen. Grund soll ein Schneewunder gewesen sein, bei dem es im August schneite und man eine schlechte Ernte befürchtete. Weil damals kaum jemand lesen konnte, wurde die Passion Christi, sowie das Leben und Sterben Marias an den Wänden aufgemalt. Zahlreiche Kleinode schmücken die Kirche, um jedes davon ranken sich Geschichten und Mythen, die viel über das Leben hier verraten. Theresia Fuetsch kennt sie alle. Wenn die Witwe des Tiroler Bildhauers Gottfried Futsch in ihrer schönen Sprache zu erzählen beginnt, entstehen schlagartig Bilder im Kopf, man vergisst das Hier und Jetzt. Selbst bei Minus Fünfzehn Grad.
Geschichten ganz anderer Art kann Alois Berger erzählen. Mit 79 ist er der älteste Bergführer der Gegend, noch vor drei Jahren war er das letzte Mal auf Tour. Wie vielen Menschen er das Berggehen beigebracht habe, herrje, so eine Ziffer passe wohl kaum in einen Rucksack, sagt er. Auch die Geretteten und die Verunglückten waren viel an der Zahl. Gleich bei seiner ersten Führung mit 17 auf die Dreiherrnspitze (3.499 Meter) sei ihm einer runtergekugelt, sagt der Lois. Als Draufgabe sind dann just während des Gipfelfotos noch zwei Lawinen losgegangen. Gerne erinnert er sich aber daran, dass er am Großvenediger (3.657 Meter) das erste Gipfelkreuz aufgestellt hat. 150 Kilo schwer waren die Teile, die er mit seinen Helfern auf einer Kraxe am Buckel in der Nacht hinaufgeschleppt hat. Da rauf, sagt der Lois, da könne er heute noch mit verbundenen Augen steigen. Obwohl es immer gefährlicher werde, seit die Gletscher schmelzen, die Spalten tiefer und der Steinschlag häufiger werde.
Der Rückgang der Gletscher bringt aber so manch stumme Zeugen der Vergangenheit wieder zutage. So entdeckte Friedl Steiner vor zehn Jahren die Reste einer JU 52 am Umbalkees. Der legendäre Flieger der deutschen Wehrmacht war im letzten Kriegsjahr dort abgestürzt und hat sich im ewigen Eis gut gehalten. Friedl Steiner und seine Freunde haben die Teile geborgen, die jetzt in einer Garage in Prägraten auf eine adäquate Präsentation warten.
Immer wieder geben die Berge wieder etwas her, sagt Lois Berger. Vergängliches und Tote, aber auch schöne Bergkristalle und edle Steine. Und immer wieder werden sie gefunden. Von Menschen wie den Prädingern, die im Schatten der hohen Gipfeln leben, auf die es sie allesamt immer wieder hinauftreibt. Weil, sagt Adolf Berger, wennst da im Tal lebst, musst einfach rauf, wennst neugierig drauf bist, wie’s dahinter weitergeht.

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