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PORTRÄTS
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DAS PERUANISCHE WUNDER
Eine Spurensuche im Andenstaat, wo die Köche die Zeichen der Zeit erkannt haben. Allen voran Virgilio Martinez.
© Fotos: Gustavo Vivanco, César del Rio
„In Peru ist es leicht jemanden zu überraschen.“ Wir stehen mit Virgilio Martinez in seiner kleinen kulinarischen Welt mitten in Limas trendy Viertel Barranco und sind, naja, echt überrascht. Es ist das Ende einer mehrwöchigen Reise, in der allein schon die Landschaft für permanente Abwechslung sorgte. Azurblaue Pazifikwellen treffen auf monochrome Wüstendünen, verwitterte spanische Kolonialarchitektur geht nahtlos über in geschwulstartig wuchernde Slums. Man windet sich auf Staubstraßen holprig in luftige Höhen, wo auf 5.000 Metern der Atem schon recht kurz wird. Man überquert tiefe Schluchten, bestaunt vom Regenwald überwucherte Inka-Ruinen, lässt sich von schneebedeckten Anden-Gipfeln zu Bilderbuch-Vergleichen verleiten und schippert schwitzend durch den Dschungel von Amazonien. Und dann steht man hier in dieser Oase, wo hohen Mauern Verkehrslärm und Großstadtleben draussen halten, und weiß, man ist endgültig gelandet.
Es ist ein kulinarischer Höhenflug, zu dem einen Virgilio Martinez in seinem Restaurant Central entführt. Alturas Mater, also Höhen, nennt er sein Menü mit sechszehn Gängen, in denen die ganze Pracht und Vielfalt Perus konzentriert serviert wird. Optisch verführerisch und so leicht, dass die Geschmacksnerven zu tanzen beginnen. Wohl durchdacht folgt hier eines aufs andere, spiegelt das Land, seine Kultur und seine Produkte wider. Was hier so spielerisch auf dem Tisch landet ist allerdings das Ergebnis einer akribischen Spurensuche, mit vollem Einsatz gepaart mit Disziplin, und vor allem einer unbändigen Leidenschaft.
Peru ist wild, sagt Virgilio Martinez und grinst von einem Ohr zum anderen. In Europa etwa, sagt er noch, ist es leicht, sich ein Netzwerk an guten Lieferanten aufzubauen. Man sucht sie, man findet sie, man hält Kontakt, es wird zuverlässig geliefert, Wege und Transporte sind bequem und ausgebaut. Wenn aber der Fischer seines Vertrauens im hintersten Amazonien heute keine Piranhas liefern kann, weil er keine gefangen hat, dann gibt es einfach keine, weil es kein Telefon gibt, keine Straßen und schon gar keinen anderen Fischer.
Was übrigens schade wäre, denn der Piranha-Gang, Nummer 10 im Menü, firmiert als Amazonian Waters und ist spektakulär. Das pürierte, gewürzte Fischfleisch wird dafür 24 Stunden getrocknet und kommt schließlich als knuspriger Streifen auf Piranha-Köpfen gebettet zum Tisch. Die spitzen Schreie und Handy-Blitze verraten zuverlässig wo im Lokal Nummer 10 gerade an der Reihe ist.
Kochsein ist mehr als gut kochen können, sagt Virgilio Martinez und gesteht gleich freimütig, dass sich heute sein Leben vom Aufstehen bis zum Niederlegen nur ums Essen dreht. Gekocht hat er immer schon gerne, trotzdem wollte er, ganz Mittelstandskind, zunächst Skateboard-Profi werden, was er mit Talent und Ehrgeiz verfolgte. Erst eine schwere Verletzung zwang ihn den Weg zu ändern und zwar in Richtung Küche. Er wollte lernen, er wollte ein guter Koch werden, und das zu einer Zeit, in der Peru ein weißer Fleck auf der Gourmet-Landschaft war. Gerade einmal Heimat der Kartoffel, gebratene Meerschweinchen und Nikkei-Kitchen, war das wenige, das man mit dem Andenland assoziierte.
Heute weiß man dass es hier über 4.200 Kartoffelsorten gibt, und dass die Meerschweinchen-Fallen für Touristen besonders tief sind. Unser Tipp: Im Fallen Angel in Cusco sind sie frisch, delikat und knusprig gebraten. Und Nikkei ist verläßlich weiterhin eine Größe für sich. Dieses Cross-Over aus japanischer Küche mit peruanischen Zutaten ist eine Erfindung der Wirtschaftsflüchtlinge, die im 19. Jahrhundert von den japanischen Inseln über den Pazifik nach Peru auswanderten.
Einer ihrer Nachfahren ist Mitsuharu Tsumura, der diesen Stil in Perfektion beherrscht. Maido, was auf japanisch ungefähr soviel heißt wie: Beehren Sie uns bald wieder, nennt er sein Restaurant und für seine elfgängige Nikkei Experience kommt tout Lima und jeder Reisende, der rechtzeitig reserviert hat, gerne wieder. Herausragend der in Miso marinierte Kabeljau mit Paranüssen, Pilzen und einer Grünen-Apfel-Sauce sowie ein weißer Meeresfisch in einer Krabbenreduktion.
Virgilio Martinez jedenfalls wusste vor über zwanzig Jahren, dass er raus in die Welt musste, um gut zu werden. Seine Wanderschaft führte ihn nach Kanada, New York City, London und vor allem nach Barcelona zu Santi Santamaria, der ihm zeigte, dass Kochen auch eine Philosophie haben und eine Leidenschaft sein muss. Wieder zurück in der Heimat war Virgilio Martinez klar, welcher Weg der seine war. Er wollte die uralte Kultur und die Vielfältigkeit seines Landes kulinarisch auf neue, moderne Weise interpretieren und präsentieren. Heute zehn Jahre später blickt die ganze Welt nach Peru und wundert sich, was dort plötzlich neben Hühnersuppe, Maispüree und Ceviche alles möglich ist. Und was es alles gibt.
Bei uns wächst so viel, sagt Virgilio Martinez, da muss man ganz schön viel nachdenken, was man damit machen kann. Es wird immer komplizierter, sagt er und die Bubenhaftigkeit, die dem 42-Jährigen dabei ins Gesicht geschrieben steht, verrät den Spaß, den er bei seiner Mission hat. Stillstand, so läßt sich vermuten, ist in seinem Leben keine Kategorie, die er akzeptieren würde.
Gleich nach den ersten Anzeichen seines Erfolges ging er daran seine Visionen einer besseren kulinarischen Zukunft weiter auszubauen. Kurz zusammengefasst: engere Zusammenarbeit mit den Bauern in den entlegenen Regionen und ein Forschungslabor, in dem mit den Ressourcen naturnah und ökologisch experimentiert wird, aufgebaut auf dem alten Wissen der indigenen Bevölkerung.
Klingt komplex, wird aber verständlich, wenn man das jüngste Martinez-Projekt aufsucht, das Restaurant MIL im Nirgendwo zwischen Cusco und Ollantaytambo gelegen. Während man auf 2.500 Metern Höhe auf einer unbefestigten Straße dahinruckelt, hängen rundum die Nebelschwaden tief in den Regenwäldern der Andentäler und lösen im Kopf Abenteuerromane aus. Das Navi holt einen aber immer wieder zurück in die Realität, weil man es irgendwie nicht glauben kann, dass man noch richtig ist. Selbstfahrende Touristen gibt es jedoch im Land der selbsternannten und stolzen „craziest drivers in the world“ sowieso recht selten und Taxifahrer kennen die Adresse ganz genau. Gleich neben einer uralten Terrassenanlage, auf der vermutlich einst die Inkas ihre Nahrungsmittel nach einem ausgeklügelten System kultivierten, kuschelt sich der strohgedeckte Lehmziegelbau in die Landschaft. Er signalisiert in seiner Schlichtheit, dass hier erstens die Natur und zweitens das Essen im Mittelpunkt stehen und kein Pipapo davon ablenken soll.
Ich wollte unbedingt hierher, schon allein wegen der vielen, neuen Zutaten, sagt Luca Tamussino und strahlt dabei übers ganze Gesicht. Der 26-jährige Wiener Koch hat bei Christian Petz im Gusshaus die Basics gelernt und zum Schluß als Sous-Chef in Der Liebe gekocht. Auch er beschloss, in die weite Welt hinaus zu gehen, um gut zu werden und von den ganz Großen zu lernen. Skandinavien mit Redzepi oder Martinez in Peru war die Frage, sagt Luca Tamussino, aber die Palette an Zutaten, die es sonst nirgends auf der Welt gibt, reizte mich mehr. Und außerdem: so kalt wie in Kopenhagen ist es bei uns daheim eh auch.
Also löste er lieber ein Ticket nach Lima, lernte Spanisch und bewarb sich hartnäckig immer wieder um einen der begehrten Kochplätze bei Virgilio Martinez. In der Zwischenzeit schaute er sich im Land und in den Küchen bis zum Titicacasee um. Nach etwa vier Monaten, im Oktober 2018 kam endlich eine Zusage fürs MIL (Anm.: bei Redaktionsschluss stand dann fest, dass er im März 2019 auch im Central mitkochen wird).
Jetzt gerade aber steht er mit acht anderen und Küchenchef Luis Valderrama am MIL-Herd und lernt vor allem eines: experimentieren. Vor dem Acht-Gänge-Menü namens High Altitude Ecosystems wird den Gästen in einer Art Schauraum ein bisschen etwas zu dem erklärt und gezeigt, was sie später essen werden. Und welche Techniken man seit der Inkazeit hier praktiziert, um ganze Pflanzen zu nutzen und zu konservieren.
Eine Knolle namens Oca zum Beispiel, die tagelang in die Sonne gelegt wird, um ihre Süße voll entfalten zu können. Oder Chuno, kleine Erdäpfel, die nach sehr alter Tradition im kalten Klima auf natürliche Weise gefriergetrocknet und dabei ganz schwarz werden. Oca und Chuno gibt es als Chips mit Cocabrot und Holunderbutter (Sauco) zum Menü-Einstieg.
Ebenfalls eine neue Erfahrung: Cushuro, eine Süßwasser-Alge, die nur in Seen in extremer Höhe während der Regenzeit geerntet werden kann. Sie hat geschmacklich etwas leicht Schlammig-Grasiges das mir gefällt, sagt Luca Tamussino, und sie erinnert in der Textur überraschend an Kaviar. Dazu enthält sie doppelt so viele Proteine wie Quinoa, das ja gemeinhin als Superfood gilt. Extreme Altitude nennt sich der Gang, bei dem Cushuro mit Ente, Weizen und schwarzem Quinoa serviert wird.
Außergewöhnlich auch der Schweinebauch der nach 20 Stunden niedriggaren, zerzupft, neu zusammengesetzt und gegrillt wird. Er ist mit Regenwaldkräutern gewürzt, die der indigenen Bevölkerung immer schon gegen Bauchweh helfen. Ein äußerst delikates Hausmittel also.
Zu den Dingen, an die man sich sehr lange erinnern wird, weil sie so überraschend einfach sind, so präzise zubereitet und wie ein Gesamtkunstwerk präsentiert werden, zählen zwei Gerichte. Beide sind sie als Huldigung an die Bauern gedacht, die durch ihre Zusammenarbeit mit MIL ihren Stolz zurückgewonnen haben. Ihr Gabelfrühstück aus Maiskörnern mit Käse wird mit Maispüree und –cracker in seiner ganzen Vielfalt und Buntheit interpretiert. Hier wachsen immerhin 56 Sorten, darunter auch roter Mais, der getrocknet und ausgekocht als Chicha Morada getrunken wird.
Und zum Erntedank werden Erdäpfeln und Mashwa – eine Andenknolle – traditionell im Huatia, einem Tonofen, auf dem Feld gegart und dann mit der Hand gegessen. Genauso macht man das im MIL auch. Eine Variante davon findet sich im Martinez-Menü im Central in Lima, wo bei Gang Nummer 9 ein Erdäpfel in Tonerde auf den Tisch kommt und dort erst herausgeklopft wird.
Viele Pflanzen und Kräuter, die im MIL in enger Zusammenarbeit mit den Einheimischen entdeckt und kultiviert werden, kommen natürlich im Central zum Einsatz. Allen voran Kakao, den man im MIL in seiner ganzen Bandbreite verarbeitet und sogar das weiße Fruchtfleisch rund um die Bohne verwendet. Und die Kakao-Nibs, sagt Luca Tamussino, die nach dem Rösten der Bohnen entstehen, haben gerüchteweise schon die alten Inkas gekaut. Immerhin geben 100 Gramm davon mehr Energie als sieben Tassen Espresso. Ebenfalls aus dem MIL-Labor kommen Muno, eine kräftige Anden-Minze, oder ein Bier aus fermentierten Wurzeln sowie Canaso, ein peruanischer Schnaps aus Zuckerrohr, der hier experimentell mit Quinoa oder Dillblüten versetzt wird. Und der Kaffee von den Three Monkeys, drei peruanischen Baristas, die ihre Pflanzen biodynamisch anbauen und die Früchte nur bei Vollmond ernten.
Mater Inicitiava nennt Virgilio Martinez übrigens seine Food-Scout-Bewegung, die von seiner Schwester Malena geleitet wird und an der auch seine Frau Pia León beteiligt ist. Zehn Jahre lang stand sie gemeinsam mit ihrem Mann im Central in der Küche, lernte Präzision und Ausdauer von ihm und setzte seine Küchenlinie um.
Es war an der Zeit mich selbständig zu machen, sagt die 31-Jährige, die sich über dem Central jetzt ihr eigenes kleines Restaurant eingerichtet hat. Kjolle heißt es, so wie eine gelbe Andenblume, die fermentiert und zu Saucen verarbeitet wird und nach Safran schmeckt. Hoch oben auf Bäumen wächst sie, wo ihr nichts mehr im Wege steht. Unabhängigkeit, Weitsicht und Freiheit scheinen auch Teil vom Konzept von Pia León zu sein, bei der es kein striktes Menü gibt und die sich ganz nach der Saison der ausschließlich peruanischen Zutaten richtet.
Die Ingredienzien sind schließlich wild und bunt genug, um immer wieder Abwechslung ins Spiel zu bringen. Man muss sie nur entdecken, sich seiner eigenen Wurzeln besinnen und etwas Neues daraus gestalten. Eine Philosophie mit der der Martinez-Clan auch die Seele Perus sichtbar macht. Und auf der vermutlich ein wesentlicher Teil des peruanischen Küchen-Wunders basiert, immerhin blühen in diesem Windschatten immer mehr kleine Restaurants auf, die ihre Region authentisch, aber verfeinert auf den Tisch bringen. Echt überraschend, da kann wohl gerade noch die peruanische Landschaft mithalten.