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PORTRÄTS
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Defereggental
Servus Magazin Dezember 2014
VON HEIMKEHRERN UND DAGEBLIEBENEN
Seit Jahrhunderten treibt es die Deferegger hinaus in die weite Welt. Die meisten kommen wieder. Aus Familiensinn und vielleicht auch, weil die Welt da draußen nicht anders funktioniert wie die im Osttiroler Tal.
© Foto Marco Rossi
Krrch, krrch, krrch, krrch knirscht es freundlich bei jedem Schritt. Krrch, krrch, krrch, krrch drücken unsere Schuhe ihre Umrisse in den Schnee, der sich in einer superweißen Masse, gesprenkelt mit blitzenden Pünktchen rundherum soweit in die Ferne ausbreitet, bis er von einem Baum oder Felsen gestoppt wird. Das Tief kam diesmal von Süden und hat Osttirol und somit auch das Defereggental üppig mit Schnee bedacht. Die Deferegger mögen das Wetter vom Süden, vor allem die Tiefs im Winter, die das Tal zum Schneeloch machen. Wäre das Tief aus dem Norden gekommen, hätten die Hohen Tauern die ganze Flockenparade abbekommen und für die Osttiroler wäre nichts mehr übriggeblieben. Nicht einmal Schnee, würde so manch Deferegger dann seufzen, der sich hier im hintersten Winkel des Landes schon gerne einmal von Gott, Restösterreich und der Politik vergessen fühlt.
Über zwei Meter hat es abgeworfen und da wo wir jetzt wie Hasen, Rehe und Füchse Spuren (zweibeinige) im frischen Weiß hinterlassen, ist normalerweise eine Straße, die uns in 2.000 Metern Höhe zur österreichischen Grenze führt. Jetzt säumen gerade noch die Spitzen der zweimeterzwanzig hohen Straßenbegrenzungen den Weg zum Grenzbalken, der nach jahrzehntelangem strengen Querliegens heute nur noch senkrecht in die Höhe ragt. Der Stallersattel trennt das Defereggental vom Südtiroler Antholzertal und verbindet gleichzeitig die Zweitausender der Villgrater Berge mit den Dreitausendern der Rieserferner Gruppe.
Kaum, sagt Gottlieb Obkircher, als wir jetzt so gen Süden ins italienische Tal blicken, wo am Horizont die Eisdecke des Antholzersees im Sonnenschein glitzert. Also kaum Grenzverkehr meint damit der 74-Jährige Bergführer aus St. Jakob im Defereggental, der zwar mit sämtlichen Berggipfeln ringsum auf Du ist, aber so gut wie nie einen Fuß ins drübere Tal setzt. Im Sommer ist die einspurige Straße lediglich bei Motorrad- und Radfahrern beliebt, im Winter ist sie nicht vorhanden. Und überhaupt hat man mit den Antholzern soviel und so wenig zu tun wie mit den Virgentalern nördlich oder den Villgratern südlich.
So ist das in den Bergen, wo jedes Tal sein eigenes kleines Universum bildet, egal zu welcher Obrigkeit es gerade gehört.
Diese war im Defereggental nicht immer überall die selbe. Während der vordere Teil von Hopfgarten bis St. Veit im Mittelalter zum Erzbistum Salzburg gehörte, wurde der hintere Teil um St. Jakob von den Görzer Grafen regiert. Der ganz hinterste Teil mit der Jagdhausalm auf über 2.000 Metern Höhe, wurde und wird bis heute im Sommer von Pustertaler Bauern bewirtschaftet. Der Grundstein zu dieser ältesten Almsiedlung auf österreichischem Boden wurde Anfang des 13. Jahrhunderts gelegt, die ganzjährige Bewirtschaftung musste aufgrund der Höhenlage aber kurz danach wieder aufgegeben werden.
Es wachst ja nicht viel bei uns, sagt Helga Grosslercher (67), die einstige Sennerin der Bruggeralm. Kein Obst, nur Rüben, Erdäpfel, Gerste, Hafer und selbst das wird heute kaum mehr angebaut, weil es im Juni und August schneien kann. Da hat man das Tief aus dem Süden dann gar nicht mehr so gerne.
Gemeinsam mit ihrer Firmpatin, der 81-jährigen Josefa Näckler bereitet Helga Schlipfkrapfen und einen Blattlstock aus Germteig mit Mohn, Honig, Rum, Zimt, Zucker und viel heißer Butter zu. Dieser gehört im Tal zum traditionellen Weihnachtsessen. Die Schlipfkrapfen aus Nudelteig mit Erdäpfelfülle gab’s früher immer freitags, sagt Josefa. Nein samstags, sagt Helga. Sie wurden jedenfalls fürs Mittagessen gekocht und fürs Abendessen dann gebraten. Der Teller stand in der Mitte des Tisches und im Nu waren alle Krapfen nach dem Motto „einer in den Mund, einer in die Tasche“ weg, sagt Josefa.
Während sie am großen Tisch den ausgewalkten Nudelteig sorgfältig rund ausstechen, erzählen die beiden Damen von früher. Von der großen Hochwasserkatastrophe 1965 zum Beispiel, wo die Schwarzach so anschwoll, dass das Tal eine Woche lang abgeschnitten war und es sechs Todesopfer zu beklagen gab. Und Josefa erinnert sich schon an einen regen Grenzverkehr, einen inoffiziellen, Mitte des vorigen Jahrhunderts. Rinder wurden damals über hochalpine Steige nach Südtirol geschmuggelt, zurück kam man mit Körben voller Polenta und Zucker. Bei so manch Schuss, der von hoch droben durchs Tal hallte, wußten die Deferegger dann nicht, ob jetzt ein Jäger seine Beute erlegt hatte oder ein Zöllner einen hungernden Schmuggler.
Es war der Hunger, der im Laufe der Geschichte die Deferegger, recht untypisch für Talgemeinschaften, zu so etwas wie einem fahrenden Volk machte. Nach dem Niedergang des Bergbaus im Mittelalter, gingen nicht wenige Familien über den Winter als Teppich- und Decken-Hausierer auf Reisen. Im Sommer kamen sie wieder zurück, um bei der Mahd zu helfen und um die Kinder hier in der Heimat zur Welt zu bringen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden aus den Händlern Strohhut-Fabrikanten in den großen Städten der Monarchie. Und all die Ladstätters, Stembergers, Kleinlerchers oder Mellitzers kamen sogar noch als wohlhabende Unternehmer immer wieder heim um auszuhelfen.
Auch Pepi Grimm folgte dem familiären Hilferuf, der den Bäcker 1987 in der Schweiz ereilte. Also kehrte er nach 15 Jahren wieder zurück, um sich um den höchsten Bergbauernhof (1.700 Meter) des Tales zu kümmern. Geld und Angst hab ich nie gehabt, sagt er mit donnernder Stimme und wir können uns bildlich vorstellen, wie er lustvoll gegen bürokratische Hürden ins Feld zieht, die seiner Meinung nach den Bauern das Leben erschweren. Auch bei der Renovierung des alten Bauernhauses aus dem Jahr 1599 wollte man ihn nicht unterstützen, weil es nicht unter Denkmalschutz steht. Reiß es ab, hat man ihm gesagt. Zu Fleiß hab ich’s renoviert, sagt Pepi Grimm. 30 Schafe, 20 Hühner, 3 Kühe, 4 Jungrinder und 3 Ponys stehen heute bei ihm im Stall, letztere hauptsächlich zum Vergnügen seiner beiden kleinen Söhne. Die schrecken sich auch nicht mehr, wenn der Papa zum Alphorn greift. Eine Leidenschaft, die Pepi Grimm aus seiner Schweizer Zeit mitgebracht hat und für die sich auch die Deferegger durchaus begeistern können, die sich musikalisch sowieso als recht aufgeschlossen erweisen.
Schließlich können sie sogar mit einem singenden Wirten aufwarten. Ich bin da oben aufgewachsen, wo die Hühner Steigeisen getragen haben, sagt der 71-jährige Christian Jesacher und wachelt mit der Hand Richtung Villgrater Berge. Seine Eltern haben neben der Landwirtschaft eine kleine Jausenstation geführt und als 1967 der bis heute einzige Lift im Tal eröffnet wurde, bauten sie kurz danach ein Alpinhotel. Weil es so günstig neben der Talstation liegt, stellte Christian Jesacher vor zwanzig Jahren einen Kuhstall fürs Après-Ski daneben hin. Ich habe bei den Gästen für Stimmung gesorgt, sagt Christian Jesacher, der dabei vom mittlerweile verstorbenen deutschen DJ Albin Rasch entdeckt wurde. Aus dir mache ich was, hat der DJ gesagt und mit ihm eine CD aufgenommen, die sich erfolgreich verkaufte und der bereits weitere folgten.
Mit welch Feder auch immer die Texte von „Das Feuer der Rose“ oder vom „Jesacher Lied“ verfasst wurden, an die Kunst des bekanntesten Deferegger Dichters können sie wohl nicht heranreichen. Reimmichl wurde als Sebastian Rieger in St. Veit geboren, war zu Beginn des vorigen Jahrhunderts Priester und gleichzeitig Leiter des „Tiroler Volksboten“. Unter den zahlreichen Geschichten und Romanen des Volksschriftstellers befand sich eine Erzählung mit dem Gedicht „Tirol isch lei oans“, das vertont als inoffizielle Hymne Tirols gilt.
Das richtige Werkzeug zum Schnitzen seiner Kunstwerke findet Josef Planer sicher auf Anhieb. Etwa 400 Schnitzmesser, so schätzt der St. Veiter Holzbildhauer, sind es schon, die da penibel aufgereiht und nach Größe sortiert in seiner Werkstatt lagern. Neben einem Zeichentalent ist es vor allem sein Vermögen, im Unterbewußtsein Gesichter und Bewegungen zu speichern, die in seinen Figuren wieder zum Vorschein kommen. Am wichtigsten ist aber vermutlich seine Liebe zur Natur.
Stundenlang streift er durch die Wälder und sammelt dabei die Zutaten für seine Krippen nebenbei ein. Kleine Wunderwelten, in denen bis zur windverrutschten Dachschindel jedes Detail lebensecht nachgebildet ist. Früher hat Josef Planer auch Krampusmasken geschnitzt, die heute nur noch als Relikte die Werkstatt zieren. Zu brutal geworden ist der Brauch, sagt er, und streicht dabei sanft über den Faltenwurf einer seiner Heiligenfiguren.
Nach seiner Herrgottschnitzer-Ausbildung im Lechtal musste er wieder zurück, erzählt Josef Planer, weil der Vater krank war und einer den Hof weiterführen musste. Wohl, sagt er, wäre er ansonsten weggegangen, wie so viele Junge, denen das Tal zu eng wird. Aber so wie seine Kunstwerke, die ihre Reise bis nach New York, Marrokko und Russland antreten, kommt er sowieso viel herum. Und mit den Jahren auch gerne wieder heim. Immerhin gibt es im Defereggental den größten Zirbenbestand der Ostalpen und das weiche Holz ist eine wesentliche Basis seiner Kunst.
Aus den jungen, noch nicht verholzten Zirbenzapfen wiederum macht Heimo Macher in St. Jakob Hochprozentiges. Ohne zugesetzte Aromen und in reinster Qualität. Mindestens drei Wochen liegen sie in Alkohol und werden so zum Likör. Erst wenn dieser zweimal im Kupferkessel gebrannt wurde, kommt klarer Zirbengeist heraus. Ich bin vom Schnapsvernichter zum Schnapsgenieser geworden, sagt Heimo Macher, dem dabei das Vergnügen ins Gesicht gezeichnet ist. Vor 18 Jahren hat der gelernte Koch im Keller des elterlichen Hotels die einzige Brennerei des Tales aufgebaut. Da er nach wie vor täglich in der Hotelküche steht, bleibt der Schnaps nur Hobby. Die Zutaten wie Zwoschbern, also Heidelbeeren, oder Zirbenzapfen kauft er jungen Burschen ab, die sie für ihn sammeln.
Dort wo der große, der Oberhauser Zirbenwald beginnt, zweigt das Patschertal ab, von dessen Ende man den Hochgall (3.436 m) erklimmen kann. Der markante Gipfel liegt haarscharf hinter der Grenze in Südtirol, nach einem Ausweis hat hier aber nie jemand gefragt. Das ist mein persönliches Lieblingsgebiet, sagt Berg- und Skitourenführer Günter Troger. Ein unberührter Landstrich mit riesigen Steinblöcken, die nach einem Felssturz in grauer Vorzeit dort herumliegen, und mit tausendjährigen Lärchen.
Bereits der Uropa des 37-Jährigen war Bergführer, er selbst ist schon mit zweieinhalb Jahren noch in der Windelhose auf Skiern gestanden. Bei Skirennen hat es dann zwar auf Bezirksebene für ein paar Pokale gereicht, für eine Ausbildung im Skigymnasium Stams war es aber zu wenig.
Ich bin da hineingewachsen, sagt Günter Troger, den der Vater, natürlich ebenfalls Bergführer, bereits als Baby in der Kraxe mit auf die Berge genommen hat. Als Jugendlicher war Wandern für ihn naja pfff, erst als er das Klettern für sich entdeckte und im Tal etablierte, wurden die Berge wieder interessant. Vor drei Jahren hat er gemeinsam mit mehreren Partnern eine Firma gegründet, über die man mehrtägige Berg- und Skitouren vom Anfänger bis zum Könner buchen kann. Übernachten in Hütten und Sonnenaufgänge inklusive. Die Berge bieten etwas für alle Sinne, sagt Günter Troger und würde am liebsten nur das Naturerlebnis in den umliegenden Gipfeln, zu denen nicht wenige Dreitausender gehören, anbieten. Viele Gäste aber, sagt er und zuckt mit den Achseln, brauchen die klingenden Namen wie Großvenediger oder Großglockner auf ihrer Liste.
Ob wir Antonia Wieser dereinst für triumphale Ski-Siege bejubeln werden, ist noch nicht heraußen. Die Elfjährige ist jedenfalls wild entschlossen Skirennläuferin, am liebsten im Slalom, zu werden. Jedes Wochenende tingelt sie, begleitet von ihrem Vater Hans Kleinlercher, von Nachwuchsrennen zu Nachwuchsrennen und sammelt Punkte. Sie hat eine Gaudi, sagt gutmütig der Papa, von dem man sich im Tal erzählt, dass er in seinem früheren Leben als Zöllner ein ganz ein strenger gewesen sein soll. Heute ist er ein freundlicher Wirt und zwar im Gasthaus seiner Lebenspartnerin Uschi Wieser, in der Alpenrose in Erlsbach.
Hilf uns aus, nur zwei Saisonen, hat der Vater gesagt, sagt Uschi Wieser. Sollte bei dieser Erinnerung ein Anflug von Wehmut ihre Seele streifen, so lässt es sich die herzliche Frohnatur nicht anmerken. 25 war sie damals und hatte nach ihrer Ausbildung in der Hotelfachschule gerade in Los Angeles eine Ahnung vom Leben in der großen, weiten Welt bekommen. Das Nachtleben und den Strand, ja, das hat sie am Anfang vermisst, sagt sie jetzt 20 Saisonen später, in denen sie das 400 Jahre alte Gästehaus in die moderne Zeit führte, ohne ihm seine Patina, und somit seine Würde, zu nehmen.
Die Eltern von Uschi Wieser haben sich mittlerweile aus dem Betrieb zurückgezogen, dafür hilft ihre ältere Tochter, die 17-Jährige Valentina bereits mit. Am Wochenende, denn unter der Woche geht sie in Lienz zur Schule und wohnt dort bei der Oma. Das hat auch die kleinere Antonia kurz ausprobiert. Doch das Heimweh und die Sehnsucht nach den Freunden war zu übermächtig, so dass sie schnell wieder heimkehrte.
Na, hier wäre ich auch nicht wegegegangen, sagt Gottlieb Obkircher, während wir die zarten Steaks und die deftigen Kaspressknödel in der Alpenrose verputzen. Legendär die Abende hier nach einer Gamsjagd, erinnert er sich und dabei strahlen seine Augen voller Freude. Da wurde das Jägerlatein so intensiv gepflegt bis die Hörner der Gams so lang waren wie etwa das Deferegger Pfannhorn (2.820 m) hoch. Schön war das, sagt der alte Bergführer, und nie wollte er sein Tal verlassen. Selbst als Zank und Hader seine Familie zerrüttete, konnte er hoch droben auf den Gipfeln Trost finden und den Blick am weiten Horizont schärfen. Noch immer ist er eifrig in den Ostalpen unterwegs. Aber jetzt, sagt er, verabschiede ich mich jedes Mal von einem Gipfel. Wer weiß, ob ich wiederkomme.
Das Tal verlassen hat in jungen Jahren Bernd Troger. Bis nach Sydney verschlug es den Koch und als er nach fünf Jahren wiederkehrte, war er nach der großen Weite Australiens noch nicht bereit für das kleine Universum im Osttiroler Tal. Erst das noch engere Dasein auf einem russischen Flussschiff bei St. Petersburg veränderte seine Perspektive. Jetzt lebt er mit seiner kleinen Familie in den ehemaligen Zollhäusern, wo sich der 44-Jährige auch eine kleine Senfmanufaktur eingerichtet hat. Im Ein-Mann-Betrieb produziert er den „Deferegger Senf“ in den verschiedensten Geschmacksnoten von Marille (passt zu Käse) über Dill-Honig (zur Räucherforelle) bis Preiselbeere (zu Hirschwürsteln).
Er musste weg, sagt Bernd Troger, während wir draußen vorm Fenster dem luftigen Tanz der Schneeflocken zusehen. Das Tief aus dem Süden ist nämlich zurückgekehrt. So wie die Deferegger, die laut Bernd Troger, bereits im Heimkommen geübt waren, als Kolumbus erst nach Amerika aufbrach. „Weil wir“, sagt er noch, „wir Deferegger sand ollas Hoamplärrer.“ Und wenn uns nicht alles täuscht, glänzen dabei seine Augen ein ganz klein wenig verdächtig.