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Eggental

Servus Magazin Juni 2016
AM ENDE DES REGENBOGENS

Wer das Südtiroler Eggental besucht, tut gut daran, seine Sinne beisammen zu halten. Es könnte sonst leicht sein, dass man von der Landschaft verzaubert in andere Sphären entschwebt. Dabei hat auch die Realität genug zu bieten.

© Foto Peter Podpera

Plötzlich ist alles anders. Zwei, drei spitze Kehren und der wummernde Beat des Fernverkehrs auf der Brennerautobahn geht in ein sanftes Brummen über. Zwei, drei spitze Kehren weiter und die Hauptschlagader Europas, die den Norden mit dem Süden verbindet, ist hörtechnisch im Ausblendmodus. Eine Kehre noch. Eine andere Welt. Und Stille. Oder fast, immerhin führt nur eine einzige Straße hier herauf ins Eggental und die wird von den motorisierten Bewohnern italienisch sportlich genommen. Zumindest in diesem Punkt hat man sich in dieser Südtiroler Ecke südöstlich von Bozen und dem Etschtal assimiliert. Knapp hundert Jahre und zwei Generation später, nachdem Südtirol Italien zugesprochen wurde, sind natürlich noch etliche mehr Punkte dazu gekommen, obwohl man hier sehr auf die Erhaltung regionaler Kulturen bedacht blieb.

Wie ein edelsteinbesetztes Diadem umkränzen die Felsspitzen der Dolomiten mit ihren Schönheiten Rosengarten (2.981 m) und Latemartürme (2.842 m) das Hochtal. Im Norden sorgt der bizarre Felsabbruch des Schlern (2.563 m), im Süden der Zanggen (2.492 m) samt den siamesischen Zwillingsgipfeln Schwarzhorn (2.439 m) und Weißhorn (2.316 m) für die Vollendung eines Panoramas in Bilderbuchform. Im Schatten dieser Berge lebte man lange recht unbehelligt vom Rest der Welt.

Recken- oder Regglberg nannte man die Gegend früher nach dem Hochplateau auf dem sie liegt. Erst vor etwa 20 Jahren wurde alles als Eggental zusammengefasst, sagt Paul Pfeifer, der Wirt vom besten Haus am Platz in Deutschnofen. „Gasthof Stern Albergo Stella“ steht in schlanken grauen Lettern auf der Fassade, die architektonisch die Eleganz und das südliche Lebensgefühl der 1950er Jahre verströmt. 1311 wurde erstmals eine Gastschenke an dieser Stelle erwähnt, die Paul Pfeifer jetzt in 3. Generation führt. Mein Großvater Hans Brunner war einst Chorleiter und Lehrer, hat in Innsbruck studiert und hier unterrichtet, erzählt Paul Pfeifer. Doch in den 1920er Jahren wurden die deutschen Lehrer durch italienische ersetzt, die Sprache verboten und Hans Brunner ging in die Toskana und malte Bilder. Als der Stern zum Kauf stand, kehrte er nach Deutschnofen zurück und stellte sich als Bürgermeister gemeinsam mit dem Pfarrer gegen die Absiedlungspläne von Deutschen der faschistischen Regierung.

Dableiben oder gehen, sagt Paul Pfeifer, damals gingen Risse durch ganze Familien. In Deutschnofen entschieden sich die meisten fürs Dableiben, die wenigen verlassenen Höfe wurden von Italienern übernommen. Die waren aber bald wieder weg, sagt Paul Pfeifer, die wollten auf 1.300 Metern Höhe Reis anbauen.

Wir waren hier immer schon Grenzgebiet, sagt Paul Pfeifer, hatten gemeinsame Almen mit den Ladinern aus Welschnofen und den Italienern aus dem Trentino. Trotzdem haben wir als Südtiroler Identitätsprobleme, sagt der 35-Jährige und lächelt dabei sanft, weil wir uns nur langsam daran gewöhnen können, dass wir halt italienische Staatsbürger mit deutsch/österreichischen Wurzeln sind. In seiner Generation haben sich aber Zorn und Vorurteile deutlich verringert, vor allem weil sich seit 1972 durch das Südtirolpaket samt Autonomie viel verbessert hat. Vielleicht aber auch, sagt Paul Pfeifer und muss jetzt herzlich lachen, weil wir als Kinder lieber italienisches Fernsehen geschaut haben. Das war einfach lustiger.

Deutsch und Italienisch perfekt beherrscht auch Sigrid Thaler, die mitten im artenreichen Naturpark Trudnerhorn südlich von Bozen aufgewachsen ist. Ich wollte als Kind alles über Pflanzen wissen, sagt sie, aber meine Mutter war genau die Generation, die dank des enormen medizinischen Fortschritts leider altes Heilwissen vergessen hatte.

Wie viele Südtiroler ging auch Sigrid Thaler nach Innsbruck und studierte dort Biologie mit Spezialgebiet Botanik. Nach einem Intermezzo als Bio- und Mathe-Lehrerin, ist sie heute ausgebildete Kräuterpädagogin und als Expertin bis nach Deutschland gefragt. Es ist wichtig, den Bogen zwischen altem Wissen und modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu spannen, erklärt sie jetzt gerade einer Gruppe, mit der sie in aller Herrgottsfrühe zu einer Kräuterwanderung rund um Deutschnofen aufgebrochen ist. Also, ja Arnikaschnaps kann desinfizierend und wundheilend wirken und man hat sich früher auch ein Stamperl gegönnt. Heute weiß man, dass das Herzrasen verursacht und setzt ihn nur mehr äußerlich als Tinktur ein.

Ohne das alte Heilwissen aber, sagt Sigrid Thaler, hätten hier früher die Kinder nicht überlebt. Es gab keine Straßen, Ärzte erreichten die Höfe nur nach tagelangen Fußmärschen, darum war man zum Beispiel auf Lindenblütentee als Antibiotikum angewiesen. Natürlich ist das heute ihren drei Buben zwischen 11 und 15 Jahren zu langwierig, sagt sie mit einem gnädigen Blick. Trotzdem scheinen sie ihre Philosophie bereits intus zu haben. Alle drei nämlich, so schwört Sigrid Thaler, wollen bei Halsweh einen Salbeitee und lassen sich ihre Wehwechens mit Pechsalbe heilen.

Die Kräuterwanderer in ihrer Obhut haben sich inzwischen mit Speckjause und Kniekiachle – einem Bauernkrapfen mit Preiselbeeren – im Kreuzhof bei der Kirche St. Helena gelabt. Vermutlich ein prähistorischer Kultplatz wurde 1311 für die Knappen des Silberbergbaus, die die Trienter Bischöfe aus Sachsen hierher holten, ein Gotteshaus errichtet. In der romanischen Kirche blieben Wandgemälde aus der Hochgotik des frühen 15. Jahrhunderts erhalten. Allerdings nur weil sie 1640 während der Pestepidemie weiß überkalkt, dann übermalt und erst vor etwa 100 Jahren entdeckt und freigelegt wurden.

Wer vor dem Gebäude auf einer Holzbank Platz nimmt, tut tunlichst gut daran, seine fünf Sinne beisammen zu halten. Zu leicht könnte angesichts der dramatischen Kulisse die Phantasie mit einem durchgaloppieren. Vor unseren Füßen breiten sich sanft in allen Grünschattierungen die Wälder und Wiesen der Hochebene aus, bis sie abrupt von den weißen Felswänden des Rosengarten und des Latemars gestoppt werden. Wie mächtige Beschützer ragen sie senkrecht in den Himmel und reduzieren den Menschen auf die Kleinheit, die ihm von der Natur zugewiesen wurde. Seit der Mittelsteinzeit bewegen sich Menschen in diesem Gebiet und sie haben die wundersamsten Mythen ersonnen, um sich dieses einzigartige Schauspiel unvernunftmäßig begreifbar zu machen.

Die Latemartürme etwa sollen durch einen Fluch versteinerte Puppen eines venezianischen Händlers sein, der einst über den Berg zum Säumen ging. Der Rosengarten wiederum soll in seiner ganzen Pracht vom Zwergenkönig Laurin angelegt worden sein. Nach einem bösen Verrat belegte er ihn mit dem Bann, dass kein Mensch mehr seine Rosen sehen darf. Nur im roten Schein der untergehenden Sonne kann man sie ihn den Felswänden noch erahnen. Und das wunderbare blaugrüne Farbenspiel des Karersees verdanken wir angeblich einem liebeskranken Hexenmeister. Verliebt in eine Nixe zauberte er ihr einen Regenbogen voller Juwelen in den Himmel. Als die Angebetete abtauchte schleuderte er ihr enttäuscht sein Kunstwerk hinterher. Lec de ergobando – Regenbogensee – heißt er heute noch auf Ladinisch.

Während der Großteil des Eggentales bayerisch-tirolerische Wurzeln hat, wurde Welschnofen mit Karersee und Karerpass von den Welschen oder Ladinern besiedelt, die etwa 4 Prozent der Bevölkerung Südtirols ausmachen. Bis Ende des 19. Jahrhunderts lebte man hier in völliger Abgeschiedenheit und von der kargen Landwirtschaft auf über 1.200 Metern Höhe. Erst mit dem Bau der Eggentalstraße wurden die Welschnofener mit Bozen verbunden, wenig später durch die Dolomitenstrasse über den Karerpass auch mit dem Fassatal. Damit war der Weg frei für die Alpintouristen, die zuhauf in den steilen Wänden Mut, Ehrgeiz und Können beweisen wollten.

Mit der Eröffnung des Grand Hotels Karersee 1896 kam dann auch die Society um etwas Bergluft zu schnuppern. Mit allem Komfort, versteht sich. Auf 1.630 Metern Höhe gab es elektrischen Strom, Tennisplätze und einen 9-Loch-Golfplatz. Ein Ambiente von dem sich Kaiserin Sisi, Winston Churchill, Agatha Christie und auch Karl May gerne inspirieren ließen.

Der Ruhm vergangener Tage ist längst verblasst, das Grand Hotel in Appartements umfunktioniert, nur die spektakuläre Naturkulisse steht unbeeindruckt da wie eh und je und zieht Bewunderer an. Von denen nicht alle in die Höhe spreanzeln. Auf Augenhöhe wachsen im Latemarwald Haselfichten, deren feinmaseriges Holz als Klangholz im Geigen- und Gitarrenbau begehrt ist.

Auch der Bregenzer Orgelbauer Leopold Stadelmann kam einst wegen des guten Holzes in die Gegend. Mein Vater, sagt Oswald Kaufmann, hat bei ihm gelernt und ich hab’s vom Vater gelernt. Dichtes Fichtenholz mit engen Jahresringen eignet sich am besten für Orgelpfeifen. Dazu braucht man noch Eiche, Nuss, Kirsch und Ahorn für den Körper, sagt Oswald Kaufmann, der sich auch mit Restaurierungen alter Orgeln einen Namen gemacht hat. Sein ältestes Stück, eine Junkhans-Orgel aus Eppan von 1682, haben wir leider gerade verpasst. Sie steht jetzt wieder dort in der Kapelle zum Hl. Kreuz.

Natürlich habe ich Orgelspielen gelernt, sagt der 46-Jährige und zwinkert belustigt mit den Augen, aber ich tu’s nicht. Allerdings wird jede einzelne Pfeife und zum Schluss die ganze Orgel von ihm persönlich gestimmt. Gleichmäßig soll sie klingen, aber auch nicht fad, also elektronisch. Ja, ich träume manchmal von Tönen, sagt er und zwinkert wieder belustigt, aber bitte das ist jetzt wirklich nichts Schlimmes.

Eher kühne Träume hatte kurzfristig Toni Santa, bevor ihn sein Herz zur Ordnung rief. Der Deutschnofener war vor fünf Jahren gerade in Petersberg beim Wötschelmoos unterwegs, als er einen mächtigen Baumstamm am Wegesrand liegen sah. Hoppla, hab ich mir gedacht, sagt Toni Santa, der ist aber alt, vielleicht so eintausend Jahre. Er kaufte die Lärche dem Bauern ab, dem sie nur im Weg war, und ließ sie von der Uni Innsbruck untersuchen. Das verblüffende Ergebnis: der Urbaum hat an die 7.600 Jahre am Buckel und war somit vor Ötzi mit seinen 5.250 Jahren auf dieser Welt.

800 Jahre war er schon, sagt Toni Santa, bevor er ins Moor fiel und ohne Sauerstoff so wie er war erhalten blieb. Teile von der 30 Meter langen Moorlärche hat er der Uni Bozen zur Klimaforschung übergeben, den Rest kann man in seinem Mini-Museum bestaunen.

Eigentlich wollte ich die Moorlärche künstlerisch verwerten, sagt Toni Santa, während wir zwischen Kreuzen, Skulpturen und hölzernen Kulis herum wandern. Sogar eine Trommel hat er damit gebaut, die vom Jazzer Peter Erskine bespielt wurde. Aber, sagt Toni Santa und streicht dabei sanft über ein archaisches Stück uralter Erdgeschichte, sie ist mir so ans Herz gewachsen, dass ich nichts davon hergeben und kein Geschäft mehr damit machen möchte.

Die Verwirklichung seiner Träume ging Stefan Köhl bereits mit 17 zielstrebig an. Seine Idee, die elterliche Landwirtschaft auf Hofkäserei umzustellen, traf auf offene Ohren. Milchkühe und Jungtiere hatte man damals am Lehnerhof in Deutschnofen, das Einkommen wurde durch die Wald- und Holzwirtschaft gesichert. 30 Jahre ist Stefan Köhl heute und seine prämierten Käse werden auch in der Spitzengastronomie gern serviert. Alles handgemacht, sagt Stefan Köhl, der jetzt einen 40-Kilo-Laib Bergkäse, 6 Monate gereift, aus dem Regal stemmt und schätzt, dass er jeden Laib bis zu 70mal in der Hand hat, bevor er fertig ist.

20 Milchkühe, sagt Stefan Köhl, braucht man, dann kann eine Familie davon leben. 30 hat er jetzt und es sollen auch nicht mehr werden. Meine Philosophie, sagt er, soviel Wiese, soviel Kühe, ja nicht größer. Wie eine Wellness-Anlage fürs Grauvieh wirkt denn auch der weitläufige Auslauf, rundum ausgestattet mit Kratzbürsten und einem Erste-Reihe-fußfrei-Blick auf Rosengarten und Latemar.

Eigene Tiere braucht Alexander Bisan auf der Legeralm nicht. Er hütet Kälber, Ochsen, Eseln und trächtige Kühe auf der Petersberger Gemeinschaftsalm und betreibt dort mit seiner Frau Simone eine vegetarische Almhütte. Für mich ist das authentisch, sagt der Hirte aus Deutschnofen, die bäuerliche Küche war immer schon fleischlos. Natürlich ist er auch ein Beseelter, der seine Visionen von ökologischer Nachhaltigkeit weitergeben möchte. Deshalb gibt es auf der Legeralm keine Fertigprodukte, dafür fair trade-Schokoladen und Kaffee, Cola wurde durch Fruchtsäfte aus der Region ersetzt und es gibt sogar einen veganen Kaiserschmarrn. Nur beim Bier, sagt Alexander Bisan, musste ich Kompromisse eingehen. Da können die kleinen Brauereien mit den Vorteilen der großen nicht mithalten.

Ein Beseelter ganz anderer Art, ist Oskar Eheim. Man braucht keine Ausbildung, nur die pure Freude an den Sternen, sagt er, während er in der Sternwarte in Gummer am riesigen Teleskop hantiert. Den Saturn will er uns zeigen, doch wir brauchen Geduld, weil ausgerechnet jetzt ziehen Wolken vorbei.

Hier ist ein guter Platz für ein Observatorium, erklärt der Herr Ingenieur, weil die Lichtverschmutzung in der Nacht so gering ist. Seit 15 Jahren gibt es die Volksternwarte auf dem 1.370 Meter hohen Hügel und sie zieht Hobbyastronomen aus nah und fern an.

Während wir auf Saturn wartend gigantische Sonneneruptionen beobachten, erzählt uns Oskar Eheim etwas über die Erdachse, die pendelt, wie wenn sie rauschig wäre; über astrologische Sternbilder, die vor 7.000 Jahren von den Babyloniern eingeführt wurden, sich das Firmament aber seither so verändert hat, dass sie nicht mehr stimmen können; dass man um Sternbilder wie den Kleinen Bären zu sehen, die hellsten Sterne miteinander verbinden muss; und dass man hier die Voraussetzungen für Leben auf anderen Planeten berechnen könnte. Während wir fernab der Erde geistig langsam in andere Sphären entgleiten, zeigt sich in der Präzisionsoptik endlich der Planet mit seinem Ring. Und sofort fühlen wir uns noch viel  kleiner als angesichts des Rosengartens und des Latemars.

Ein paar hundert Meter weiter unten landen wir dann zwar in der Vergangenheit, aber trotzdem in der Gegenwart. Im Heimatmuseum Steinegg hat man rechtzeitig die letzten Relikte alten bäuerlichen Lebens zusammengetragen. Viel davon hab ich noch selbst erlebt, sagt der 77-Jährige Werner Mahlknecht. Die alte Schmiede, den Schuster, die Rauchkuchl und die alte Stube, wo er noch genau den Platz weiß, an dem die Oma immer gesessen ist. Gut war’s, sagt Werner Mahlknecht, und gut dass wir soviel für die Nachwelt erhalten konnten. Was wären wir, wenn wir nichts über unsere Wurzeln wüssten, sagt er weise und ganz leise schleicht sich jetzt ein Brummen aus dem Etschtal ins Gehör. Zwei, drei spitze Kehren hinunter und schon dröhnt es lauter. Eine Kehre noch. Lärm. Und plötzlich ist alles wieder ganz anders.

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