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Gadertal

Servus Magazin Bayern Juli 2019
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IM TAL DER LADINER

Das Südtiroler Gadertal ist das Herz des Lebensraumes der Dolomiten-Ladiner. Hier pflegt man noch uralte Lebensweisen, Kulturen und vor allem die eigene Sprache.

© Fotos: Bernhard Huber

Schwalbennester bringen Glück, davon haben wir viele.“ Wir stehen mit Rosa Piccolruaz, 55, auf einem windschiefen Balkon und streichen mit der Hand ehrfürchtig über einen verwitterten Holzbalken. Heimlich halten wir uns auch daran fest. Man weiß ja nie, vielleicht gilt das mit den Schwalben und dem Glück nur für Einheimische. Aus dem Jahr 1200 stammt der Hof hier im Weiler Alfarei oberhalb von Badia, der als ältester im Gadertal gilt und der von außen so viel Erhabenheit ausstrahlt, dass er locker mit dem imposanten Felspanorama rundum mithalten kann. 

Wer hier lebt, der braucht keine Schwalben fürs Glück, denken wir, dem reicht die tägliche Aussicht vom Balkon. Während die uralten Trame bei jedem unserer Schritte kleine, knarrende Seufzer von sich geben, purzelt unser Blick über farbig getupfte Blumenwiesen hinunter ins Tal durch das die Gader eine bewegte Linie zieht. Einmal nach rechts geschweift, zeichnen die Spitzen der Puez-Geisler-Gruppe ein zackiges Muster in den blitzblauen Himmel. Einmal um die eigene Achse gedreht pinselt die Abendsonne gerade einen warmen rotgoldenen Ton auf die ansonsten bleichen Felswände der Heiligkreuzkofelgruppe.

Da schau, da kann man das Pferd gut erkennen, sagt Rosa. Und wir bemühen uns wirklich sehr, um etwas annähernd Pferdekopfähnliches aus der Wand unter dem zentralen Gipfel, dem Le Ciaval (2.911 m), herauszukitzeln. Naja, ah jetzt vielleicht, man muss nur lange genug hinstarren.

Dabei gibt es hier so viel anderes zu sehen. Tone zum Beispiel, Rosas Ehemann, der gerade von der Mahd zurückkommt, einen sagenhaft großen Binkel Heu auf den Schultern. So wie schon seine Vorfahren hat er es in ein Tuch gewickelt um es in den Heuschober überm Stall zu tragen. Nicht weil Tone, 62, nostalgisch wäre, eher weil im steilen Gelände Maschinen oft nicht helfen können.

Die Wiesen der Familie Piccolruaz sind aber allesamt nicht weit weg, denn Alfarei ist einer der Viles, die die Römer errichteten, als sie 15 v. Chr. zu den abgeschiedenen Berglern vordrangen. Diese bäuerlichen Siedlungen nach römischer Art waren ringförmig angelegt, die Höfe mit Wegen verbunden und die umliegenden Felder so aufgeteilt, dass jede Familie davon leben konnte. Die Häuser selbst hatten architektonisch alpenländische Merkmale, waren aus Holz mit einem steinernen Fundament. Gemeinschaftlich genutzt wurden Brunnen, Getreidespeicher und Mühlen. Was die Römer noch hinterließen: eine Art Vulgärlatein, das die seit tausend Jahren hier lebenden Räter mit ihrer Sprache vermischten. Das Ladinische wird heute noch von den etwa 30.000 Dolomiten-Ladinern in fünf Kleinregionen gesprochen, von denen das Gadertal das Herzstück ist. Jahrhunderte lang lebten sie im unwegsamen Bergland recht abgeschottet, pflegten ihre Kultur, ihre Bräuche und behielten ihre Traditionen.

Ich koche nach überlieferten ladinischen Rezepten meiner Familie, sagt Rosa, die den alten Herd jetzt mit Holz befeuert. Ab etwa 1930 gab es Elektrizität im Haus für fünf Glühbirnen, sagt Tone, dessen Familie seit 200 Jahren den Hof betreibt. Als später das Radio kam, sagt er noch mit einem belustigten Blitzen in den kugelrunden Augen, musste man zwei Birnen wieder aus der Fassung schrauben, damit es funktioniert. Bis vor dreißig Jahren hat er im Haus gelebt, das es immer schwerer hatte, sich den neuen Zeiten anzupassen. Dann war es genug und Tone baute daneben ein neues. Seither kümmert sich Rosa um diesen Zeugen der Vergangenheit, richtete die Stuben wie ein kleines Bauernmuseum ein und bekocht darin kleine Gruppen zum Beispiel mit Gerschtlsuppe und Turklein – gefüllten Teigtaschen mit Topfen und Spinat.

500 Meter weiter oben legt man sich beim Panoramablick noch einen Tick mehr ins Zeug. Da sieht man an schönen Tagen bis zur Marmolata, dem höchsten Berg der Dolomiten. Warum ausgerechnet hier auf 2045 Metern Höhe am Fuss der steilen Felswand der Heiligkreuzkofelgruppe eine Pilgerstätte mit Wallfahrtskirche errichtet wurde, darum ranken sich viele Legenden. Ursprünglich begann man vor 600 Jahren unten in St. Leonhard mit dem Bau. Dann aber sollen weiße Tauben, so die gängigste Version, von den Arbeitern mit Blut verschmierte Holzspäne gestiebitzt und hierher verfrachtet haben. Das nahm man als Zeichen, seither wird auf den Berg gepilgert oder einfach nur gewandert.

Das Hospiz nebenan ist mittlerweile eine Schutzhütte, die seit 130 Jahren von der Familie Isara betrieben wird. Sechzig Jahre habe ich den Mesner gemacht, sagt Erwin Isara, 73, und stupst mit dem Zeigefinger den speckigen Lodenhut aus der Stirn. Und weil er auch der Koch der Hütte war, musste er oft mitten im Schnitzelbraten zur vollen Stunde rüber zur Kirche laufen und dort den Glöckner machen.

Im Rucksack haben wir die Lebensmittel früher herauf geschleppt, sagt Erwin und reibt sich in der Erinnerung das Kreuz. Heute gibt es eine Zufahrtsstrasse und einen Lift, darum hat es seine Tochter Karin, 39, leichter. Wenn du hier in der Abgeschiedenheit aufwächst, wird dir irgendwann selbst das Bilderbuch-Panorama zu eng, sagt sie. Das Fernweh trieb Karin bis nach Neuseeland, das Heimweh wieder zurück. Als ich dann im Tal ankam, sagt sie und dabei huscht ihr ein Lächeln voll Freude übers Gesicht, ist mir das Herz aufgegangen, da hab ich die Bergkulisse mit neuen Augen gesehen.

Was Willy Costamoling, 76, in der umliegenden Dolomitenwelt schon alles gesehen hat, würde wohl mehrere Abenteuerfilme füllen. Der Mann ist ein Haudegen, eine lebende Legende und wir erlauben uns, ihn als so etwas wie den Luis Trenker vom Gadertal zu bezeichnen. Nur ein paar Stichworte: natürlich ist er Skilehrer, natürlich ist er Bergsteiger und bei der Bergwacht. Gemeinsam mit den Grödnern gründete er die berühmte Bergrettung Dolomiti, die ausgestattet mit Hubschraubern und Nachtsichtgeräten nahezu jeden in Not hier aus den Felsen holen kann.

Als in den 1970er Jahren Drachenfliegen populär wurde, war Willy der erste in Italien der lossegelte. Und wer wissen will, wie es sich anfühlt, irrtümlich nicht angeschnallt drachenzufliegen und trotzdem zu überleben, muss ihn auf seiner Hütte Punte Trieste auf der Pralongia hoch über Corvara besuchen. Ich habe auch versucht den Weltrekord im Drachenfliegen aufzustellen, sagt Willy und sein wettergegerbtes Gesicht bekommt einen noch verwegeneren Ausdruck. Nach fünf Stunde brummte ihm aber der Kopf wie ein Bienenstock. Man muss wissen wann man aufhören muss, sagt Willy, das lernt man beim Bergsteigen.

Niemals aufhören wird vermutlich seine größte Leidenschaft: die Suche nach Fossilen im alten Dolomitengestein. Vor allem seit er vor 32 Jahren in 2.800 Metern Höhe die Conturineshöhle mit Knochen von ca. 200 Bären entdeckte. Mit 50.000 Jahren zählen sie zu den älteste Knochenfunden der Welt und stellten einige Theorien der Paläontologen auf den Kopf. Bis zu 800 Kilo schwer wurde der reine Pflanzenfresser Ursus ladinicus, dessen Überreste im Ladiner-Museum in St. Kassian ausgestellt sind.

Dort gleich daneben ist Norbert Niederkofler im Restaurant St. Hubertus auf dem Weg zur Koch-Legende. Seit Jahren schon gehört er zu den großen Meistern der gehobenen Spitzenküche, nachdem er aber vor acht Jahren sein Konzept radikal umkrempelte, pilgert man aus der ganzen Welt zu ihm in den hintersten Winkel Südtirols. Als damals mein Sohn geboren wurde, sagt der 58-Jährige, begann ich nachzudenken, welche Verschwendung wir hier betreiben. Also machte sich der Koch daran das kulinarische Erbe der Alpen für die Nachwelt zu retten.

In seiner Küche werden jetzt nur noch Zutaten aus der näheren Umgebung verwendet, keine Meeresfrüchte mehr, die lange transportiert werden müssen, lieber Forellen und Saiblinge aus den Gebirgsbächen. Nicht einmal Olivenöl kommt zum Einsatz sondern Traubenkernöl, selbst Zitronen sind verpönt. Die nötige Säure in seiner preisgekrönten Küche holt er sich durch Fermentation und Milchsäurevergärung, so wie man es seit Jahrhunderten auch zum Haltbarmachen in der Gegend praktiziert.

Ich kenne alle Bauern persönlich, sagt Norbert Niederkofler, dem die Begeisterung ins Gesicht geschrieben steht, dass er dauernd etwas Neues dazulernt. Gemeinsam wird altes Wissen ausgegraben, die Tiere werden mit Respekt behandelt und alles was wächst, dann verarbeitet, wenn es reif ist. Ich habe gelernt, sagt Nobert Niederkofler mit sanftem Timbre in der Stimme, dass nur drei Dinge im Leben wichtig sind: gutes Essen, Verantwortung den Menschen gegenüber, mit denen man zu tun hat. Und drittens der Nachwelt etwas zu hinterlassen.

Letzteres hat auch Susy Rottanara, 38, im Sinn. Schon als Kind ist sie mit ihrem Vater Lois Rottanara stundenlang durch die Natur gestreift. Der als Rott bekannte bildende Künstler entführte sie dabei erzählerisch in die mystische Sagenwelt ihrer Vorfahren. Die Fanes-Sage etwa gehört zum ältesten Kulturgut unseres Volkes, sagt Susy, die jetzt einem Elfenwesen gleich durch das Wäldchen hinter ihrem Elternhaus schwebt. Deshalb hat sich die ausgebildete Sopranistin in ihrem multimedialen Konzert „Der Traum der Dolasila“, bei dem klassische Musik, bildende Kunst und Dichtung in ladinischer Sprache mit Videoinstallationen verknüpft werden, der Fanes-Prinzessin Dolasila angenommen. In der uralten Überlieferung besiegelt Dolasilas Tod, das Schicksal der mystischen Wesen, der Fanes, die jetzt tief unten im Gestein, im Reich der Murmeltiere, auf die sogenannte verheißene Zeit warten müssen.

Nach dem sagenumwobenen Volk der Fanes haben die Ladiner eine Hochebene auf 2.000 Metern Höhe benannt die vom Gadertal aus zu Fuß zu erreichen ist. Wer hier über die saftigen Wiesen, zwischen sprudelnden Bächen, vorbei an Felswannen, smaragdgrünen Wildseen und durch duftende Zirbenwälder wandert, fühlt sich wie durch Zauberhand als wäre er in anderen, einer intakten, friedlichen Welt gelandet. Falls dann noch ein paar Schwalben vorbei zischen, ist das Glück beinahe greifbar. 

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