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PORTRÄTS
PORTRÄTS
Grödnertal
Servus Magazin Juni 2017
DIE FARBE DER BERGE
Im Südtiroler Grödnertal spielen die Dolomiten alle Stückln. Damit beflügeln sie die Kreativität der Bewohner, die, jahrhundertelang vom Rest der Welt abgekapselt, ihre eigene Kultur und Tradition entwickelten.
© Foto Bernhard Huber
Do kemmts her, des miassts segn!“ Roman Runggaldier wachelt mit seinem Ferngucker wild über dem Kopf und bringt dabei das Kunststück fertig, flüsternd zu schreien. Es ist nicht einmal noch 5 Uhr früh und gelinde gesagt saukalt hier heroben am Sellajoch. Unser Atem zeichnet weiße Wölkchen in den blauschwarzen Himmel, der ringsum von den Spitzen der Sella- und Geislergruppe und dem mächtigen Langkofel zackig zerrissen wird.
Noch sind sie tiefschwarze Schatten, wuchtige Monumente der Natur, die im Kopf leise schnarrend das Tor zur Sagenwelt öffnen. In dieser wimmelt es nur so von beleidigten Zwergen, wütenden Königen, unglücklichen Prinzessinnen und ungehorsamen Riesen die allesamt hier versteinert wurden. Für die Einheimischen, die Grödner, ist ihr Hausberg, der Langkofel (3.181 m), denn auch wahlweise ein bestrafter Riese oder Zwerg, je nach dem wer gerade am Erzählen ist. Jedenfalls streckt er jetzt, wo sich der Himmel langsam ins Blassblaue erhellt und die Sonne noch ohne aufzutauchen beginnt die Schleier der Nacht zu lüpfen, gut sichtbar seine Hand in die Höhe. Rotgetüncht macht sich die Fünffingerspitze (2.996 m) als erstes wichtig in der felsigen Welt der Dolomiten, in der jetzt ein Gipfel nach dem anderen erwacht, sich zunächst rosa, dann gelb und schließlich in angemessenem Grau in Schale wirft.
Hallo... Nach dem Sonnenaufgang hat auch Roman das laute Flüstern abgelegt, auf den wir angesichts des Spektakels beinahe vergessen hätten. Dafür hat der Jäger, Bergsteiger und Spezialist für Wildtierbeobachtungen durchaus Verständnis. Sechzig ist er jetzt und war bis zum Himalaya in den hohen Bergen unterwegs. Die Dolomiten aber, sagt er, sind einzigartig vor allem wegen des Farbspiels in der Früh und am Abend. Das Gemsenrudel, das er uns vorhin zeigen wollte haben wir längst verpasst, dafür kriegen wir noch ein Steinadler-Pärchen zu sehen, das mit dem Gletscher der Marmolata im Hintergrund dem Morgen entgegensegelt. So kitschig, dass man gar nicht wegschauen kann.
Wir sehen die Berge tagein, tagaus, aber noch immer muss ich jeden Morgen rausgehen und schauen, sagt Helga Mussner in ehrfurchtsvollem Ton und streicht dabei mit den Händen die blitzweiße Kochschürze glatt. Vor 45 Jahren ist die Bäckerstochter aus St. Christina in die alte Hütte ihrer Schwiegereltern gekommen und hat den Gästen Gemüsesuppe und Würsteln serviert. Heute thront dort das Chalet Gerard elegant über Wolkenstein, mit Panoramafenstern hinter denen sich auch der Halbschuh-Tourist auf Du mit der Bergwelt fühlen kann. Vor allem aber kann er sich den Bauch füllen.
Helga Mussner hat mit viel Fingerspitzengefühl die Bauernkost der Region so adaptiert, dass man sich am liebsten im Teller eingraben würde. Ihr Risotto aus Gerste, Reis und Dinkel zum Beispiel bekommt mit den Kräutern der Umgebung ein würziges Aroma, die Wildravioli werden durch geröstete Walnüsse ihrer Simplizität enthoben. Naja, recht autodidaktisch ging ich ans Werk, sagt sie, nur zweimal hat sie Spitzenkoch Norbert Niederkofler im benachbarten Gadertal über die Schulter geschaut. Mein Kochen ist keine große Kunst eher Leidenschaft, sagt Helga Mussner, winkt noch einmal scheu und entflieht in die Küche. Das Reden und die Gäste hat sie längst ihren beiden erwachsenen Töchtern überlassen.
Mein Mann Hermann muss am Anfang schon sehr verliebt gewesen sein, sagt Andrea Comploj und lacht dabei herzlich. Auch sie ging autodidaktisch in die Küche, als sie vor 27 Jahren ihre Teestube Frainela in Wolkenstein eröffnete. Ein paar Backkurse später war sie knapp dran das Geschirrtuch zu werfen. Doch dann zeigte ihr eine Mailänder Köchin wie man aus ganz einfachen Kuchen etwas Besonderes macht.
Heute bäckt Andrea Comploj bis zu dreißig Kuchen täglich und wer zu spät auf eine Jause vorbei kommt, schaut durch die Finger. Buttermilchkuchen, sagt sie, haben in Gröden Tradition. Alles was sie dazu braucht, holt sie sich von den Bauern aus dem Tal, auch die Früchte sind aus der Region. Nur die Marmeladen kommen aus dem Piemont. Warum? Unschlagbar, sagt sie, aber sonst ist hier so gut wie alles hausgemacht, sogar der Fichtenhonig. Und die Pflanzen für ihre Kräuter- und Blumenaufgüsse sammelt sie großteils selbst.
Klar, sagt Andrea Comploj, bin ich sooft es geht in den Bergen. Die Liebe zu ihnen hat in der gebürtigen St. Christinerin einst ihr Hermann erweckt, der ihre kulinarischen Anfangsstolperer bestens verdaut hat. Der Hermann, so erzählt man sich hier rundum, gilt sogar in der recht verwegenen Bergführer-Partie im Grödnertal als wilder Hund, der schon einmal in der Direttissima mit Skiern den Langkofel runterbrettert.
Auf der tollkühnen Seite war auch Markus Pinroth schon als Kind unterwegs. Er wuchs auf 2.410 Metern Höhe auf der Seceda-Alm auf, und spurte im Sommer von der elterlichen Sofie-Hütte in Rennmanier mit dem Rad zur Schule ins Tal. Ich war ein Downhill-Pionier, sagt er, und dass einem wenn man hier aufwächst, die Berge einfach anziehen. Weil der Sohn eines ehemaligen Rennrodlers vermutlich auch einer ist, der zielstrebig angeht, was er sich in den Kopf setzt, hat er mit 14 gleich nach seinem ersten Kletterkurs die kleine Schwester auf einen Gipfel geschleppt. Ist gelungen, sagt er, so wie alles was man mit Leidenschaft macht, und dabei grinst er so verschmitzt, dass selbst Grödens berühmtester Sohn Luis Trenker abstinken würde.
Ein paar Jahre später entdeckte Markus Pinroth seine Leidenschaft für guten Wein. In einer Zeit als man auf Hütten nur zwei Weine kannte, einen Weißen und einen Roten, besuchte er Sommelierkurse und begann auf der Sofie-Hütte Südtirols höchsten Weinkeller aufzubauen. 350 unterschiedliche Weine, so schätzt er, lagern mittlerweile im Keller aus weißem Dolomitstein vom Sellajoch.
Derzeit gilt seine Aufmerksamkeit aber einem anderen Getränk. Aus Wacholderbeeren und Kräutern die allesamt rund um seine Hütte wachsen, wird nach eigenem Rezept ein Gin gebrannt. „8025“ heißt er, das ist 2.410 Meter in Fuß umgerechnet. Ich bin leidenschaftlicher Gleitschirmflieger, sagt Markus Pinroth erklärend, und in der Fliegerei rechnet man in Fuß. Und während wir vor der Sofie-Hütte einen Schluck vom Gin probieren, schwebt unser Blick über die saftiggrüne Alm runter ins Tal, dann rauf auf den felsigen Langkofel, fällt dort steil hinab auf die weitläufige Seiseralm und gleitet über dunkle Wälder wieder zurück ins Hier und Jetzt. Und plötzlich kommt einem selbst das mit den 8.025 Fuß irgendwie logisch vor.
Einer von der verwegenen Sorte war auch Oskar Runggaldier. Ich war auf allen Gipfeln in den Dolomiten, sagt er, und das teilweise auf Routen von Reinhold Messner. Seit einer schweren Beinverletzung ist damit Schluss, jetzt betreibt er mit seinem Brüder Daniel die Käseschwaige Lech Sant ein paar hundert Meter unterhalb der Sofie-Hütte auf der Seceda-Alm. Drei Monate sind die beiden im Sommer heroben und machen Käse aus Kuh- und Schafmilch. Da lass ich mir immer den Bart wachsen, sagt Oskar, im Winter muss er runter, weil er juckt.
Auf der fast 250 Jahre alten Hütte geht es uriger zu als weiter droben bei den feinen Weinen. Strom gibt es nur mittels Fotovoltaik, musiziert wird live. Entweder gibt es ein Konzert der Tiere – zu Esel, Ziege, Schaf und Kuh pfeift das Murmeltier – oder Daniel schnappt sich sein Alphorn. Wenn er nicht gerade in der Küche steht. Ich bin Koch aus Leidenschaft, sagt er und dass er weitaus weniger leidenschaftlich einst die Kunstschule in Wolkenstein besucht hat. In den kalten Monaten restauriert er alte Häuser und Kirchen und fabriziert bis zu 18.000 Schlutzkrapfen, die ab Juni auf der Alm serviert werden. Die mach ich so wie unsere Vorfahren, sagt Daniel, der die Spinatfüllung mit Brennnesseln streckt.
16 Geschwister hatte der Vater der beiden Brüder, der den Familien-Hof erbte und dafür die anderen auszahlen musste. Das wurde unter Maria Theresia eingeführt, um eine Zersplitterung der landwirtschaftlichen Flächen zu vermeiden. Die Kaiserin schickte im 18. Jahrhundert auch Beamte zur Volkszählung, die, der ladinischen Sprache nicht mächtig, einfach die Hofnamen verdeutschten. Runggaldier, Perathoner, Insam, Moroder – diese und ähnliche Namen ziehen sich bis heute durchs ganze Tal, in dem jeder das Italienische, Deutsche und Ladinische beherrscht.
„Hoi, cie fejes’a ncuei?“ Gerade noch haben uns Gemma und Klaus Insam im besten Deutsch über die mühevolle Renovierung des denkmalgeschützten Paratonihofes aus 1232 erzählt. Was Gemma aber jetzt ihrem Sohn Jonas zuruft, bleibt für Außenstehende ein Geheimnis. Damit muss der Besucher in den fünf Tälern der Dolomiten-Ladiner – Gröden, Fassa, Buchenstein, Ampezzo und Gader – jederzeit rechnen: Von einer Sekunde auf die andere versteht er nichts mehr. Das geht einem zwar in vielen Alpentälern so, wenn einem plötzlich der Dialekt um die Ohren fliegt, das Ladinische aber ist eine eigene Sprache, die seit dem römischen Reich nur in diesen abgeschiedenen Tälern erhalten blieb. Damit sie nicht ausstirbt, wird sie eifrig in den Familien gepflegt und in dreisprachigen Schulen unterrichtet. (Gemma Insam hat ihren Sohn übrigens gefragt, was er heute noch machen wird.)
Jahrhundertelang klebten die Ladiner unbeeinflusst von sämtlichen Invasoren an den steilen Dolomitenhängen und konnten isoliert ihre eigene Kultur entfalten und bewahren. Im Grödnertal, durch das Holz hinunter nach Bozen transportiert wurde, entwickelte sich im 17. Jahrhundert die Holzschnitzkunst auf zwei Ebenen. Zum einen gab es richtige Bildhauer, die Heiligenfiguren für Kirchen und Kapellen in ganz Tirol anfertigten. Mehr oder minder kunstvoll, auf jeden Fall passabel. Die besten Künstler entstammten der Dynastie der Vinatzer, deren Werke bis nach Venedig, Rom und Wien gefragt waren.
In diesem Windschatten entstand eine Art Kleinkunst der unausgebildeten Dilettanten. Die Bauern schnitzten in den langen Wintermonaten einfaches Holzspielzeug, „Chiena“, das von „Crameri“, den Holzhändlern außerhalb des Tales verkauft wurde. Von dem im Familienverband am eigenen Hof fabrizierten Kleinkram lebte nahezu die gesamte Talbevölkerung. Noch heute sagt fast jeder Grödner ungefragt, dass er im Zweitberuf Holzschnitzer ist.
Bis vor 15 Jahren haben wir LKW-weise bemalte Kästen, Truhen und Schirmständer ins Berchtesgadnerland, nach Oberammergau und in den Schwarzwald geliefert, sagt Hannes Demetz. Ganz jung war der 38-Jährige da noch, der zwar seinem Vater half aber nicht ins Familiengeschäft einsteigen wollte. Vater Albert war mit Bauernmalerei erfolgreich, einst die Spezialität der Kunsthandwerker im nahen Fassatal. Dabei werden Motive wie etwa Enzian, Edelweiss und Rosen, oder Bergpanoramen freihändig mit Acrylfarben auf helles Holz gemalt. Das ist zwar immer das Gleiche, sagt Hannes, aber jeder entwickelt seinen eigenen Schwung und Stil. Die Werke seines Vaters würde er jedenfalls immer und überall erkennen, obwohl für den Laien kein Unterschied bemerkbar wäre.
Nach Alberts frühen Tod musste Sohn Hannes den Betrieb übernehmen und da ihm das stille Pinseln Spaß machte, wuchs er immer mehr hinein. Ganz allein sitzt er heute in einer winzigen Werkstatt, die gleichzeitig Verkaufsraum ist und in der nichts darauf hindeutet, dass es einmal 15 Mitarbeiter gab. Konzentriert, fast so als würde er kalligraphieren, malt er Röschen um Röschen auf eine zurecht geschnittene Fichtenholzplatte. Dann legt Hannes zufrieden sein Werk zum Trocknen zu dem anderen bauernbemalten Krimskrams, der sich rundum stapeln. Ein bisschen Wehmut schwingt jetzt durch den Raum, aber auch die leise Hoffnung, dass sich der Trend der Zeit wieder zu seinen Gunsten drehen wird. Man muss nur Warten können.
Vom Trend der Zeit ist Aron Demetz – mit Hannes nicht direkt verwandt – kaum abhängig. Der 45-jährige hat sich international in der Kunstwelt etabliert und mit seinen Skulpturen bereits 2009 bei der Biennale in Venedig Aufsehen erregt. Meine Berufung fand ich mehr oder minder durch Zufall, sagt Aron Demetz, der Zahntechniker werden wollte, aber dann doch in der Kunstschule hängen blieb. Warum, kann er gar nicht so recht sagen. Entwicklung vielleicht, denn Metamorphose ist eines der zentralen Themen seiner Werke.
Ich habe schon früh meinen eigenen Weg gesucht, sagt er und dass er die traditionelle Holzschnitzkunst schnell hinter sich gelassen hat. So wie viele junge Grödner strebte er aus dem Tal hinaus und studierte Bildhauerei in Nürnberg. Ich wusste aber immer, dass ich nur hier leben will, sagt Aron Demetz, während uns vor seinem Atelier die Sonne in der Nase kitzelt und der Wald seinen würzigen Duft herüber schickt. Mein Material ist Holz, sagt er und dass es eine Phase gab, in der er auch Fichten- und Tannenharz gesammelt, aufgeheizt und seine Skulpturen damit überzogen hat.
Es ist eine geheimnisvolle Aura die seine Figuren umgibt, die einen mit ihrem kraftvollen Blick in Bann ziehen. Obwohl Aron Demetz mit seinen überlebensgroßen nackten Statuen in der Moderne zu Hause ist, würde er gerne einmal etwas für eine Kirche machen. Nichts Traditionelles, sagt er und lächelt sanft, so als würde ihn seine Idee gerade selbst amüsieren. Die Konkurrenz im Tal ist recht groß. An die 200 Künstler leben hier, was der Bildhauer durchaus aber als Bereicherung empfindet. So wie er das sagt, klingt es aufrichtig und geradlinig und wird durch den Nachsatz unterstrichen: Es zeugt ja schließlich von einem guten Humus, wenn sich so viele hier gegenseitig kreativ befruchten.
Ganz profan einen gutes Humus scheint es im kleinen Dorf Pufels hoch über St. Ulrich zu geben. Hier hat Lotte Zemmer auf 1.500 Metern Europas höchsten Rosengarten angelegt. Auf einer steilen Bergwiese, wo früher nur Schafe den Stand halten konnten und man mit der Sense mähen musste. Bei uns heroben geht alles langsam, sagt sie und dass sie erst im Mai mit dem Schnitt beginnen kann. Maximal eine Blüte gibt es dann bevor im Oktober die ersten Fröste einfallen.
Natürlich ist die Rose nicht typisch für das Gebirgstal, sagt Lotte Zemmer. Untypisch aber auch nicht, weil eine Rose stand hier immer schon in jedem Bauerngarten. Wenn die blühte, haben sich alle gefreut. Geschätzte 7.000 Rosen in etwa 250 Sorten gedeihen heute auf den Terrassen, die die 68-Jährige selbst konzipiert hat.
Mein Mann wollte mir zum Sechziger ein Auto schenken, ich wollte aber einen Rosengarten, sagt sie und klappert ungeduldig mit der Gartenschere. Ein Hagel hat gestern einiges von der Blütenpracht zerstört, da gibt es noch viel zu tun. Und während wir die Wege entlangschlendern und die Schäden begutachten, bleibt sie plötzlich vor einem kleinen Meer aus rosaweißen Blüten stehen, die dem Unwetter trotzten. Die Dolomiti-Rosen, sagt Lotte Zimmer, sind meine Lieblinge. Nein, keine vordergründigen Schönheiten, sagt sie flüsternd mit bewunderndem Unterton, aber zäh und mit den Farben unserer Berge bei Sonnenaufgang.