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Kals

Servus Magazin Jänner 2017
WO DER HÖCHSTE WINKT

Wer im Schatten der 3.000er der Hohen Tauern lebt, weiß wie rau der Atem der Natur sein kann. Dem Bann des Großglockners kann sich im Osttiroler Kals aber kaum jemand entziehen. Auch weil er sich immer prominent ins Bild schiebt.

© Foto Peter Podpera

„Bei uns ist es ein kleines Muss, dass man mindestens einmal auf dem Glockner war.“ Hans Oberlohr lehnt am Treppengeländer vor seinem Lucknerhaus und es steht ihm im Gesicht geschrieben, dass er insgeheim schnell nachzählt. Zirka sechszigmal, schätzt er dann, weil es als Bub in seiner Position auch noch wichtig war, immer einmal mehr als die anderen auf dem Gipfel gewesen zu sein. Das Lucknerhaus steht nämlich Erste Reihe fußfrei am Anfang des Kalser Ködnitztals und hat den besten Postkartenblick auf Österreichs höchsten Berg.

Das ist der richtige Platz, hat Hans Oberlohrs Vater in den 1950er Jahren gesagt und ein Haus hingebaut, in dem die wackeren Alpinisten noch einmal einen warmen Unterschlupf und Verköstigung finden, bevor sie sich der Natur und ihren Kräften ausliefern. Bis heute ist das Lucknerhaus so etwas wie die letzte Bastion in der Zivilisation. Während man sich aber früher auch noch die 550 Höhenmetern dorthin vom Kalser Großdorf auf einem schmalen Pfad hinaufschrauben musste, kann man seit den 1980ern bequem auf der Kalser Glocknerstraße bis vor die Hüttentüre fahren.

Wir Kalser haben eine Weggemeinschaft gegründet und uns die Straße selber gebaut, sagt Hans Oberlohr und dass man hier in der Abgeschiedenheit immer schon zusammengehalten hat, wenn es ernst wurde. Während des Tiroler Freiheitskampfes zum Beispiel, als sich 1809 der ledige Stefan Groder anstelle seines Bruders Rupert, dem Schützenhauptmann und Vater von neun Kindern, den Franzosen stellte und hingerichtet wurde. Die Statue vom Helden von Kals steht heute mitten am Dorfplatz.

Oder beim Kampf gegen das Wasserkraftwerk im Kalser Dorfertal vor 30 Jahren. Geplant waren die größte Staumauer Österreichs und die Überflutung des gesamten Tales. Vor allem unsere Frauen, sagt Hans Oberlohr, sind auf die Barrikaden gestiegen und haben verhindert, dass ein großes Stück Natur für immer verloren geht. Noch dazu wo man hier umgeben von rauschenden Bächen immer schon auf Kleinwasserkraft gesetzt hat. Schon mein Opa, sagt Hans Oberlohr, hatte ein Kleinkraftwerk am Ködnitzbach, mittlerweile speisen wir mit insgesamt fünfen unseren Strom ins Netz der TIWAG.

Es ist diese Weitsichtigkeit gepaart mit Zielstrebigkeit, die so mancher den Kalsern als Sturheit auslegen möchte, die ihnen aber schon immer ihr Überleben gesichert hat. Mit den höchsten Bergspitzen des Landes im Rücken, also sämtlichen Dreitausendern der Granatspitz-, Glockner- und Schobergruppe, die sich rund um das Kalser Tal mitsamt seiner Nebentäler schmiegen, könnte man sich trügerisch in Geborgenheit wiegen. Talschluß-Stimmung in Reinkultur, weil der Feind, wenn überhaupt, nur aus einer Richtung, aus dem Iseltal kommen kann. Doch die Natur hat einen rauen Atem, der den Menschen plötzlich und unberechenbar trifft, ihn klein und zerbrechlich macht. Und besonders rau ist dieser Atem im Hochgebirge, wo das Wetter in Minutenschnelle umschlägt, Felsen in die Tiefe stürzen und Lawinen ganze Wälder verschlucken.

Jahrhundertelang lebte man also im weitläufigen und äußerst sonnigen Tal mit der schroffen Bergwelt wie mit einem schlafenden Riesen, der ab und zu rülpst, dem man aber nicht näher kommen wollte. Man baute Hafer, Gerste und Roggen an, trieb das Vieh auf die steilen Mähdern und hielt sich relativ autark auf über 1.300 Metern Höhe. Erst als die Alpinisten im 19. Jahrhundert das komplexe Terrain des Glocknermassives mit seinen Gletschern, Graten, Rinnen und Felswänden eroberten, wurde Kals vom Rest der Welt entdeckt. Und die Kalser wandten sich erstmals den hohen Gipfel direkt vor ihrer Nase zu. Mit dem Wissen ihrer Vorfahren ausgestattet, mit ihrer Umsicht und ihrer Hartnäckigkeit, wurden sie schnell zu den Spezialisten unter den Bergführern des Alpenraums.

 

Ich war schon als Kind immer in den Bergen, sagt Peter Tembler, nimmt das Seil von der Schulter und hängt es sorgfältig auf einen Haken neben anderen Seilen, Karabinern, Eisenzacken für Bergschuhe und was man sonst so noch alles bei Bergtouren braucht. Ich wollte aber nicht Bergführer werden, weil du da nicht mehr privat unterwegs sein kannst, sagt er dann und muss über sich selber lachen. Natürlich wurde der Kalser Bergführer, aber nur weil sein Bruder einen Trainingspartner brauchte. Sagt er. Standhaft ließ er sich nebenbei zum Werkzeugmacher ausbilden und unterrichtete zwanzig Jahre lang an der HTL in Lienz. 2006 kam dann das Angebot, das er nicht ausschlagen konnte und wollte. Er schmiss den sicheren Job hin und wurde Hüttenwirt auf Österreichs höchster Schutzhütte, der Erzherzog-Johann-Hütte.

1880 erbaut ist die Herberge auf der Adlersruhe in 3.454 Metern Höhe Aufbruchs- und Zufluchtsort zugleich. In zwei Stunden kann man von hier aus den Glocknergipfel erreichen, wenn den schlafenden Riesen nichts zwickt, man ordentlich ausgerüstet ist und die Wettergötter gnädig gestimmt sind.

Neben dem Gespür des Hüttenwirtes für Wetterumschwünge, kommt den Alpinisten von heute die moderne Technik zugute. Internet und präzisere Wetterberichte machen Prognosen leichter und die Berge sicherer. Obwohl die Anzahl der Glocknerbesteiger jährlich steigt, sagt Peter Tembler, gibt es kontinuierlich nur drei bis vier Rettungseinsätze. Von Mitte Juni bis Ende September kann er von einem der höchsten Arbeitsplätze des Landes im 360-Grad-Panorama das prickelnde Gefühl von Unendlichkeit durch seinen Körper rieseln lassen. Und privat, sagt Peter Tembler mit dem Ausdruck leisen Glücks um die Mundwinkeln, zieht es mich auch im Winter rauf.

Mit 14 Jahren war der Kalser Bergführer relativ alt bei seiner ersten Glocknertour. Matthias Berger vom National Park Hohe Tauern war gar schon 15. Er kommt aber auch aus dem Virgental westlich von Matrei und dort hat man es mehr mit dem Großvenediger (3.662 m). Höchster Berg hin oder her, am Glockner ist mir der Andrang zu groß, sagt Matthias Berger, der als Ranger sowieso mehr für das Ruhige in der Natur zuständig ist. Naturbeobachtungen, Schneeschuhwanderungen und Schülerführungen sind seine Aufgaben, die ihn regelmäßig in die NP-Kernzone bei Kals bringen.

Da schau, dort drüben, ein Gemsenkindergarten, sagt er jetzt und fuchtelt Richtung Felsen links vom Ködnitzbach. Fünf Pünktchen in einer steilen Schneerinne machen wir gerade noch durchs Fernglas aus, bevor sie behende weiter kraxeln und mit dem Dunkelgrau einer Felswand verschmelzen. Statischer, dafür nicht weniger leicht zu erspähen ist ein Adlerhorst, der als filigranes Flechtwerk gut getarnt in einer Nische der senkrechten Steilwand klebt. Jedes Frühjahr bricht Matthias Berger auf und beobachtet, ob es in den Horsten Steinadler-Nachwuchs gibt. Stolze Fünfzehn sind es heuer.

Mein Opa, sagt der 29-Jährige, hat sich vehement für den Nationalpark eingesetzt, den es jetzt auch schon 25 Jahre gibt. Das wird er ihm ewig Danken, denn dadurch blieb einem hier der Massentourismus erspart. Langfristig die bessere Variante, weil wir so unsere Natur und Kultur erhalten können, sagt Matthias Berger und wirkt dabei mit seiner Zwei-Meter-Figur so fest verwurzelt mit dem Dasein wie die alten Bäume ringsum. Dann schultert er sein Stativ und verschwindet mit Riesenschritten in den weißen Weiten der Bergwelt.

Die Kalser sind musikalisch und feiern gerne, hat er uns zuvor noch zugeflüstert. Das würde Martin Gratz auf der Stelle unterschreiben, der übrigens mit zehn das erste Mal am Glocknergipfel war. Er leitet die Kalser Trachtenmusikkapelle und hat vor 20 Jahren auch das Iseltaler Blechbläserensemble gegründet. Als kreativer Grenzgänger wird er gerne bezeichnet, weil er Traditionelles mit Modernem verbindet. Laptop mit Lederhose, sagt er dazu und hat bei der Schilderung seines neuesten multimedialen Werkes den schwärmerischen Glanz eines Teenagers in den Augen. „Mythos Großglockner“ heißt das 2015 uraufgeführte Opus über die tragische Geschichte von Markgraf Alfred von Pallavicini, der 1876 als Erster die heute nach ihm benannte Rinne am Glockner durchstieg und zehn Jahre später in der Glocknerwand abstürzte. Kamera, Regie und Darstellung hat Martin Gratz mit ein paar befreundeten Bergführern als Film umgesetzt, die Musik wird bei den Aufführungen von der Kapelle live dazu gespielt. Pallavicinis Routen, die mittlerweile Klassiker sind, kennt der Musiker und Bergführer in und auswendig. Immerhin steigt er mindestens zehnmal im Jahr zum Großglockner auf.

 

Ich habe das Glück meine beiden Hobbys, Berge und Musik, zu verbinden, sagt Martin Gratz, der auch Musiklehrer in der Kalser Schule ist. Bei beiden ist es manchmal besser, sagt er dann noch, auf neuen Wegen zu stolpern als auf alten stecken zu bleiben. Das ist ein bisschen auch das Motto von Andrea Rogl vom Bergrestaurant Glocknerblick. Die eingeheiratete Steirerin interessierte sich immer schon für Kräuter und hatte plötzlich auf 1.980 Metern den ganzen Alpengarten direkt vor der Türe. Ich begann zu experimentieren, sagt sie, habe Girsch, Sauerampfer und Meisterwurz mit unserer Hausmannskost vermischt. Nicht alles war gelungen, setzt sie rasch nach, schließlich ist sie ja keine Zauberin.

 

Den Titel Kräuterhexe hat man ihr aber sofort verpasst und es war nicht immer ein anerkennendes Lächeln mit dem das damals ausgesprochen wurde. Heute gilt die 50-Jährige als Vorreiterin von deren Können und überliefertem Wissen alle profitieren. Auch die Gäste, für die sie im Sommer einen Kräuter- und Blumenweg angelegt hat. Im Winter kehren die Skifahrer direkt von der Piste ein, um sich mit einer Unkrautsuppe oder Wald- und Wiesenknödl für die nächste Abfahrt zu stärken. Den Blick aufs Bergpanorama gibt es gratis dazu.

Ich habe den schönsten Arbeitsplatz der Welt, sagt Andrea Rogl, die als Zugereiste mit 23 erstmals den Gipfel der Gipfel erklomm. Dann nie wieder, weil sie ihn ja eh dauernd sieht. Jeden Tag um 7 steigt sie mit den Skiern zur Hütte auf. Wenn dann über dem Wald die Sonne aufgeht und dir das Gesicht küsst, dann weißt du was Freiheit ist, sagt sie und strahlt übers ganze Gesicht. Und links hinter ihrer Schulter winkt uns jetzt fröhlich der Glockner zu.

Während das alte Heilkräuter-Wissen den Weg in unsere moderne Zeit überlebt hat, werden ein paar alte Traditionen sich bald überlebt haben. Der Kalser Strohhut zum Beispiel, den man einst als Sonnenschutz bei der Feldarbeit getragen hat und den die Bäuerinnen in Heimarbeit im Winter geflochten haben. Mit mir wird das Aussterben, sagt Charlotte Kerer pragmatisch und ohne jeden Anflug von Wehleidigkeit. Sie sieht es als Zeichen der Zeit. Zum einen haben die paar jungen Frauen, die ab und zu aus ganz Österreich bei ihr hereinschneien, zu wenig Geduld, um das Flechten ordentlich zu erlernen. Zum anderen braucht man dafür die dünnen Halme des Hansaroggen, der früher in Osttirol überall, heute aber kaum noch angebaut wird. Rüstige 86 ist die letzte Kalser Strohhutmacherin jetzt und im vergangenen Sommer hat sie mit Glück noch passendes Stroh ergattert. Die Chancen, dass es 2017 noch ein paar Strohhüte geben wird, stehen also nicht schlecht.

Ebenfalls auf jedem Bauernhof wurde einst Schafwolle gesponnen und zu Teppichen und Loden verwoben. Der einzige, der das hier noch macht, ist Michael Oberlohr auf seinem Bergbauernhof. Alles naturbelassen, betont er, weil er die Wolle auch mit Soda und ph-neutraler Schmierseife vor dem Verarbeiten selber wäscht. Aus den gröberen Fäden der Steinschafe werden dann Teppiche, die feineren Fasern der Bergschafe nimmt er zum Filzen und für Loden. Obwohl mehrere Webstühle, darunter auch ein von ihm selbstgebauter, herumstehen, arbeitet er am liebsten mit einem der schon geschätzte 100 Jahre im Einsatz ist. Mit viel altem Wissen gebaut, sagt Michael Oberlohr und streicht anerkennend über den Holzrahmen.

Ein Respekt den so ähnlich auch Theresia und Martin Rogl den Baumeistern alter Gebäude und Kirchen zollen. Die beiden Kalser sind spezialisiert auf die Restaurierung von Stuckaturen, im Speziellen von Stuckmarmor. In den meisten Kirchen ist nämlich nicht alles Marmor, was so aussieht. Geschlungene Säulen kann man aus dem harten Stein gar nicht machen, sagt Martin Rogl und mischt etwas Perlleim in seinen Gips, damit die Masse nicht zu schnell hart wird. Das Kunsthistorische Museum und das Palais Liechtenstein in Wien oder Schloss Hof sind voll von Arbeiten in Stuckmarmor in vollendeter Perfektion, sagt er und dass er zumeist gerufen wird, wenn nach 200 Jahren die ersten Haarrisse auftauchen.

Dann beginnt eine aufwendige Suche nach den passenden Farbpigmenten, die immer schwieriger wird, da sich die Erde dauernd verändert. Siena oder Ocker, sagt Theresia Rogl, kriegt man nicht mehr leicht. Auch die feinen Bimsteine, mit denen sie die Oberflächen bis zu sieben Mal nass abschleifen muss, sind von niemanden mehr gefragt und praktisch am Aussterben. Wir haben unsere aus Budapest vom letzten Bimsteinmacher bekommen, sagt Theresia und wiegt mit traurigem Blick einen in ihrer Hand hin und her. Wenn die aus sind, sagen die beiden 57-Jährigen leise, gehen wir in Pension.

Ihre Arbeit hat die Rogls einst in jungen Jahren aus dem Tal hinaus und nach München gezogen, erst vor zehn Jahren sind sie wieder zurückgekehrt. Im weitesten Sinne heimgekehrt ist auch Philipp Jans. Vor über hundert Jahren wanderte einer seiner Vorfahren von Kals in den Lienzer Talboden aus und erweiterte dort den Familien-Stammbaum mit einer eigenen Linie. Dass Philipp Jens vor neun Jahren wieder hier landete hat weniger sentimentale, denn pragmatische Gründe.

Der Landwirt aus Leib und Seele hat einen Bauernhof gesucht und den Figerhof in Kals gefunden. So ähnlich ging es ihm auch mit den Ziegen. Er fand sie interessant aber viel zu kapriziös und heikel. Naja, was soll man sagen. 300 Ziegen leben heute am Figerhof mit 4 Norikern, zwei Duroc-Schweinen und einer Berner Sennenhündin. Gemeinsam mit seiner Frau Renate betreibt der erst 35-Jährige den Hof im Vollerwerb. Damit steht er im Tal ziemlich alleine da. Wenn wir keinen Unreim (=Unglück) haben, sagt er, dann schaffen wir das. Demnächst wird jedenfalls die Ziegenkäseproduktion ausgebaut. Neben Frischkäse und Joghurt werden vor allem die feingewürzten Glocknerkugeln aus Ziegentopfen landesweit geschätzt.

Diese Glocknerkugeln gibt’s auch drüben im Lucknerhaus zum Frühstück. Während dort die Alpinisten vor dem großen Aufstieg zu nachtschlafener Zeit mit müden Augen über ihren Broten und Kaffeehäferln hängen, hat hoch droben die Sonne den Glockner bereits wachgeküsst. Mächtig und in rotgoldenes Licht getaucht erhebt er sich der steinerne Riese über die Dunkelheit ringsum. 3.798 Meter. Und alle hoffen, dass ihn heute nichts zwickt.

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