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Kleinwalsertal

Servus Magazin August 2017
JEREMIAS UND DIE AUFGEWECKTEN AUS DEM HINTERSTEN TAL

Abgeschieden vom Rest des Landes gibt es im Kleinwalsertal genug Platz für individuelle Ideen. Von einem Koch der mit alten Rezepten die Alpenküche neu erfindet und seinen weitsichtigen Freunden.

© Foto Bernhard Huber

Als Österreicher hat man zwei Möglichkeiten. Man kann im voralbergerischen Warth die Bergschuhe schnüren und Richtung Norden über den 1.971 Meter hohen Gemstelpass rechts am markanten Widderstein vorbei ins Kleinwalsertal wandern. Für Geübte ist das in einem Tag zu schaffen. Der weniger Geübte schaut, dass er mit dem Auto irgendwie ins bayerische Allgäu und da nach Oberstdorf kommt. Von dort sind es nur ein paar geschmeidige Kurven und man ist drin. Wären wir in Gallien, würden als nächstes Asterix und Obelix ihre Enklave verteidigen. Wir aber sind in Österreich, wo im Hochtal auf über 1.000 Metern Höhe gestandene Walser den Comixhelden an Weitsichtigkeit und Sturheit um Nichts nachstehen.

Seit sich im 13. Jahrhundert die ersten Walser im heutigen Kleinwalsertal ansiedelten, geht man hier seine eigenen Wege. Egal zu welchem Gericht (bis 1563 zum Walser Gericht Tannberg bei Lech) und zu welchen Diözesen (Konstanz, Augsburg, Brixen, Innsbruck und seit 1968 Feldkirch) man gerade gehörte. Egal auch durch welchen Zufall (eine Streiterei zwischen den Lechern und Herzog Sigismund von Tirol endet 1451 mit der Unterwerfung des Tannberges und somit auch des Kleinwalsertales durch die Habsburger) das Tal in den Allgäuer Alpen zu Österreich kam.

Die geografische Abgeschiedenheit vom eigenen Staat und das Nachbarland in Sichtweite verschafften den Talbewohnern einen Sonderstatus. Lange bevor ein gesamteuropäischer Wirtschaftsraum angedacht war, hatten die Talbewohner ihren eigenen kleinen mit Deutschland. Lange bevor Europa den Versuch startete sich zusammenzuraufen, hatte man hier österreichische und deutsche Postleitzahlen, durften sich eingeheiratete Deutsche aussuchen, ob sie ihren Pass behalten wollen. Und weil bis 2015 in Österreich das Bankgeheimnis galt, war für so manchen Deutschen ein Besuch im Tal lange Zeit auch ein steuerschonender Ausflug.

 

Wir wollten nie unsere Besonderheit aufgeben, sagt Jeremias Riezler, Spitzenkoch und Wirt der „Walserstuba“, und lächelt dabei so schelmisch, dass es einen dünkt, er habe statt der Kochmütze einen geflügelten Helm auf dem Kopf. Seit der EU gelten die einstigen Sonderregelungen zwar auch für den Rest Europas, was aber blieb ist der verkehrstechnische Widerstand. Immer wieder gab es Pläne entweder die Flexenstraße am Arlberg bis hierher zu verlängern oder am Talende Richtung Westen in den Bregenzerwald durchzubrechen. So oder so wären wir zum Durchzugstal geworden, sagt Jeremias Riezler und dass man sich als Walser und Bergler da bitte schon dagegen wehren muss. Das letzte Mal Mitte der 1980er Jahre, aber seither ist gottlob wieder eine Ruhe im Tal.

Man könnte jetzt meinen, dass in der selbstgewählten Abgeschiedenheit eine Enge entsteht, aus der es vor allem die Jugend hinaustreibt. Aber im Gegenteil, hier schauen sich viele gerne in der Welt um, beinahe alle kommen wieder zurück. Das liegt einerseits an der erfreulichen ökonomischen Situation, in der man vom Tourismus lebt ohne sich billig verkaufen zu müssen. Andererseits an einem ungeschriebenen Gesetz der Walser, nach dem in die Familien immer von außen zugeheiratet wird. Angereichert mit frischem Blut entstand ein Mikrokosmos von weltoffenen Menschen, mit reichlich Platz für individuelle Ideen.

 

Dass Jeremias Riezler das Wirtshaus, das sein Großvater auf- und seine Eltern ausgebaut hatten, übernehmen wird, stand so fix fest, dass er es nicht einmal als Teenager in Frage stellte. Sogar Koch wollte er freiwillig werden, auch weil er für die Schule kein Sitzfleisch mehr hatte. Als er nach seinen Lehrjahren am Wörthersee und im Allgäu heimkehrte hatte er zwar Haute-Cuisine-Flausen im Kopf, fragte sich aber bald was ein Hummer oder argentinisches Rindfleisch an einem Ort zu suchen haben, wo Forellen im klaren Gebirgsbach herum huschen und Braunvieh auf den fetten Alpen grast. Alpen, die seine Vorväter der Natur mühsam abgetrotzt haben, um das Überleben zu sichern.

Auf der Suche nach seinen kulinarischen Wurzeln entdeckte der heute 38-Jährige für ihn mehr Exotisches vor der eigenen Haustüre als auf den Märkten rund um die Welt und er stieß auf einen Schatz. Adam Ortwin, einst Küchenchef im Ifenhotel in Hirschegg, klapperte vor 30 Jahren die alten Bäuerinnen im Tal ab, zeichnete ihre Rezepte auf und brachte in Eigenregie ein Buch heraus. Auf Basis dieser Gerichte erneuerte Jeremias die Alpenküche der Region und zählt seit ein paar Jahren zu einem erlauchten Köchekreis der von Frankreich bis Südtirol der Traditionsküche modernen, leichten aber bodenständigen Geschmack einhaucht. Mit Wildkräutern die ihm Sammler vorbeibringen oder die er aus dem eigenen Garten zupft.

 

Auch Gemüse holt er seit neuestem aus dem Tal, wo eigentlich nur Viehwirtschaft eine Rolle spielt. Andi Haller aber, der einst mit Jeremias in die Schule ging und mit ihm in einer selbst im Tal kaum bekannten Punkband spielte, wagt seit ein paar Jahren ein Experiment, bei dem er mit Mischkulturen auch die gängigen Vorstellungen, wie ein unabhängiges Leben auszusehen hat, umgräbt. Der Ex-Snowboard-Profi war immer schon auf der Suche und hat viel ausprobiert. Vom Tischler über Alpenhirte, vom Käsemachen bis zum Gastrojob. Die Idee, dass man mit Permakultur auch auf 1.000 Metern Höhe eine Art autarkes Leben führen kann, kam ihm erst, als ihn eine Verletzung vier Monate ans Bett fesselte.

Er bohrte sich fest, studierte Unterlagen und tourte schließlich mit Jeremias durch die Schweiz, wo die Walser selbst in extremen Höhen Kartoffel anbauen. Unsere Vorfahren hatten auch Landwirtschaft, die ist aber durch den Tourismus verloren gegangen, sagt Andi und schaukelt inmitten der reinsten Alpenidylle mit dunkelgrünen Wäldern, steilen Wiesen und zackigen Berggipfeln, die in den blitzblauen Himmel ragen, sanft in einer Hängematte.

Seit fünf Jahren pflanzt er rund um ein ehemaliges Lifthäuschen, das ihm die Oma geschenkt hat und das er mit Holz beheizt und am Abend mit Petroleumlampen beleuchtet. Auf den mittlerweile 60 Hochbeeten wachsen neben Kartoffeln Zucchini, Rettich und Mais und mehrjährige Pflanzen, die sich selbst organisieren. Zu 99 Prozent bin ich schon Selbstversorger, sagt Andi, den man anfangs im Tal belächelt hat. Heute besuchen ihn Schulklassen um die Reduktion des ökologischen Fußabdruckes hautnah zu erleben, heute werden auch wieder rund um die Häuser Bauerngärten angelegt. Und weil Andi so weit es geht ohne Geld auskommen möchte, gibt es zwischen ihm und Jeremias nur den Austausch Ware gegen Ware.

 

Seinen Ziegenkäse holt Jeremias Riezler beim Nachbarsohn, beim 24-Jährigen Jodok Fritz. Um ihn zu finden braucht man im Ort Riezlern nur dem feinen Klingeling zu folgen, bis man im Nu von Lisa, Pauli, Leni, Mara, Franzi, Fabi und Gudrun umzingelt ist, die vor lauter Neugierde sogar den Jackenknopf anknabbern. Erst wenn Jodok pfeift, lassen die Gemsfarbigen Gebirgsziegen und Tauernschecken von einem ab und folgen ihrem Herrl treuer als die meisten Hunde.

Landwirt ist eine Lebenseinstellung, sagt Jodok und hockt sich mitten unter seine Tiere. Wenn dich die Leidenschaft einmal gepackt hat, sagt er noch, dann läßt sie dich nicht mehr los. Ihn, den Sohn eines Kuhmilchbauern, hat sie schon als Kind gepackt, nur das mit den Ziegen war reiner Zufall. Ein Hirte wollte vor 6 Jahren zwei besonders Fürwitzige loswerden, Jodok gefiel dieser Charakterzug also nahm er sie auf. Heute träumt er von einer eigenen Alpe hoch droben, wo er allein die Verantwortung trägt und ihm die Welt zu Füßen liegt. Reisen kann er ja dann im Winter, obwohl, da muss er als Skilehrer ein bisschen Geld verdienen. Es wird sich schon alles finden, sagt Jodok ganz entspannt, schnappt seinen Haselstock und verschwindet gefolgt von seiner kleinen Herde hinterm Hügel.

Oft auf Reisen ist Dominik Bromm, den man als so etwas wie einen Parade-Kleinwalsertaler bezeichnen könnte. Seine Oma stammte aus der ältesten Walserfamilie im Tal, den Wüster, sein Opa war Schotte. Sein Vater ist Deutscher, auch Dominik hat die deutsche Staatsbürgerschaft, weil der Papa das damals besser fand. Seit der EU ist das egal, mehr als die Hälfte im Tal sind Österreicher, ein Drittel Deutsche. In erster Linie bin ich Walser, sagt Dominik, der als Jugendlicher im Langlauf-Kader war, bis die Musik mit Jeremias Punkband in sein Leben kam und er mit 15 begann, in Discos aufzulegen. Heute ist der 39-Jährige als Electronic-DJ CRAXX in ganz Europa gefragt, spielt Schlagzeug in der Trachtenkapelle und arbeitet als Schmied in einem Kleinwalsertaler Traditionsbetrieb.

 

Beim Schmieden bist du immer im Takt, sagt Dominik während er mit dem Hammer ein Stück heißes Metall auf dem Ambos bearbeitet. Es ist dunkel, heiß, das Feuer taucht alles in gelb-rotes zuckendes Licht, dazu das rhythmische tumtumm-tamtam-tummtum und schon spürt man das Flirren einer durchtanzten Nacht am ganzen Körper. Es gibt sogar eine Schmiedpolka, sagt Dominik, legt den Hammer zur Seite und Schwupps sind wir wieder im Hier und Jetzt und im Tal.

Bei Johannes Rief nämlich, der sich unter dem elterlichen Schuhgeschäft eine kleine Werkstatt eingerichtet hat. Ich wollte nicht, dass die Tradition ausstirbt, sagt Johannes, denn längst gibt es keinen Schuhmacher mehr im Tal. Ja selbst Lehrstellen sind rundum keine zu finden, darum musste der heute 24-Jährige bis nach Innsbruck pendeln. Derzeit arbeitet er als Geselle vier Tage die Woche bei einem Schuhmacher in Garmisch, nächstes Jahr will er seinen Meister machen. Als orthopädischer Schuhmacher, weil man da mit Einlagen und Co besser über die Runden kommt. Seine Leidenschaft sind aber Haferl- und Bergschuhe aus feinstem Rindsleder, gerne auch zwiegenäht, also mit verdeckter Aufdoppelnaht, so wie man das früher gemacht hat.

Sorgsam streicht Johannes Rief über sein Gesellenstück, einen tadellosen Haferlschuh, an dem er selbst und vielleicht ein paar Kenner etwas auszusetzen haben. Doch darüber will er sich jetzt nicht ärgern, lieber will er von seinen Inspirationen nach einer Amerika-Reise und seinen Zukunftsträumen erzählen. Von der Alpe zum Beispiel, die er demnächst mit seiner Freundin hoch droben im Gemsteltal pachten wird. Eine rein pflanzliche Alpe soll es werden, weil das der Lebensphilosophie des Paares entspricht. Nur am Abend wird sich Johannes hinsetzen und die Haut von Kühen und Pferden auf 1.700 Metern in Österreichs höchster Schuhwerkstatt verarbeiten.

Dann wird drüben im Norden die untergehende Sonne den Hohen Ifen rot bemalen und den grauen Karst des Gottesackerplateaus gold besprenkeln. Ein fruchtbares Getreidefeld soll das Naturschutzgebiet auf 2.000 Metern Höhe vor langer, langer Zeit gewesen sein. Als der geizige Bauer den Armen nichts abgeben wollte, bestrafte ihn Gott, indem er alles versteinerte. Das kann Sabine Ott auf der Bärgunthütte auf 1.408 Metern kaum passieren. Ihr Herz ist so groß, da hätte wohl der ganze Gottesacker drin Platz. Wir dürfen sie auch als leutselig und offen bezeichnen, eine die sich gerne zu ihren Gästen setzt und mit ihnen plaudert, als würde man sich schon ewig kennen.

Sie erzählt dann vielleicht von den alten Walsern, die von Warth über den Gemstelpass hinter ihrer Hütte ins Tal kamen, von ihrem Opa, der eines der letzten Schwabenkinder war, und von ihrem Bruder, dem besten Hirten im Tal. Und manchmal erzählt sie dann mit leuchtenden Augen von ihrer Zeit als Au-pair in Salt-Lake-City. Die Welt ist so schön, sagt Sabine, und das Kleinwalsertal ist ihr schönstes Kleinod, da müssen wir aufpassen, dass wir es für unsere Kinder erhalten, damit sie uns nicht davonlaufen. Eine Übung, die derzeit recht gelungen aussieht. Ganz ohne Zaubertrank.

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