top of page

Orlando

Red Bulletin 2010
DIE WELT IST EINE KLIPPE

Porträt des neunfachen Weltmeisters im Cliff Diving

„Von da oben. Mittlerer Mast, dritter Querbalken. Ist 25,6 Meter hoch.“ Wir stehen am Hamburger Hafen auf der „Rickmer Rickmers“, einem 113 Jahre alten Dreimaster, der heute nur mehr als Museum dient. Links von uns ein betonierter Fußweg und davor die breite Elbe. Rechts von uns die Kaimauer und nur ein schmaler Streifen Wasser. Vielleicht 5 Meter liegen zwischen Schiff und Land. Und genau da hinein werden sich Ende August die besten Klippenspringer der Welt stürzen. Wobei „stürzen“ nicht der richtige Ausdruck ist. Denn in der Luft werden sie in perfekter Körperhaltung Salti und Schrauben drehen, bevor sie mit ca. 100 kmh im winzigen Wasserloch auftreffen, das nur ganze 5 Meter tief ist. „Alles kein Problem. Schwierig ist, dass du, wenn du oben stehst, den zweiten Balken unter dir siehst, ja richtig spürst. Es ist zwar physikalisch unmöglich, dass du da drauf springst, aber du hast ihn dauernd im Kopf.“ Orlando Duque, neunfacher Weltmeister und derzeit der beste Cliff Diver der Welt, zwickt die Augen zusammen und blinzelt prüfend gen Himmel und den dritten Querbalken. Es ist ein wunderbarer Hochsommertag, ideal zum Klippenspringen, und man sieht ihm an, dass in seinem Kopf der Sprung wie ein Film durchrattert. Zu gerne würde er da jetzt raufklettern, aber das geht natürlich nicht. Keine Sicherheitsvorkehrungen – kein Sprung. So sind die eisernen Regeln in diesem Sport, wo bei jedem Absprung die Gesundheit und vielleicht sogar das Leben auf dem Spiel stehen.

Vor einem Jahr traten die Cliff Diver hier schon einmal zum Wettkampf an, doch da hat es geschüttet wie nur was. Genauso wie vor ein paar Wochen in Rotterdam, wo die Sportler von einem alten Kran aus 26 Metern Höhe ins Hafenbecken tauchten. Trotz starken Regens bestaunt von ca. 15.000 Zuschauern. Regen, na ja, den braucht der Kolumbianer nicht wirklich. Aber er stört ihn auch nicht. Selbst eiskaltes Wasser ist nicht das Problem. Immerhin ist er in der Naturkulisse der Schweiz und in Österreich schon in 8 Grad kalte Gewässer eingetaucht. Auch bei seiner legendären Performance 2004 bei der Wiedereröffnung der alten Brücke von Mostar war das Wasser eiskalt. „Da musst du dann nur schauen, dass du schnell wieder an Land kommst.“ Wirklich schlimm für die Springer ist nur, wenn draußen klirrende Kälte herrscht. „Da sind schon vor dem Absprung deine Füße ganz kalt. Wenn du im Wasser aufschlägst, schmerzt das wahnsinnig, weil die Blutzirkulation zu plötzlich angetrieben wird. Uuuuhhhh, da werden die Füße ganz rot!“ Und weil wir jetzt gerade bei den Schattenseiten sind: Unbeliebt sind auch Sprünge in glattes, ruhiges Seewasser. „Da muss dein Körper ein Loch reinschlagen, die Oberfläche richtig brechen.“ Es genügt, wenn beim Aufprall ein Finger nicht perfekt angelegt ist, schon knickt er wie ein Zahnstocher. Orlando reibt sich den Daumen der rechten Hand, den er sich vor einiger Zeit zwar nicht gebrochen aber ganz schön lädiert hat. Petitessen für einen wie ihn, der selbst eine Gehirnerschütterung (2003) nicht der Rede wert hält.

Seit zehn Jahren ist er jetzt Profi und hat sich dabei nur einmal richtig schlimm verletzt: 2002, Beckenbruch in Hawaii. „Ich hatte damals zuviel Sonne, war dehydriert und müde. Da habe ich die Konzentration verloren.“ Das soll ihm nie wieder passieren, denn die schmerzhaften Konsequenzen kennt er jetzt: ein paar Monate nicht sitzen können und mit Bammel den nächsten Sprung antreten. Den allerdings gleich nach ein paar Tagen, weil das so ist wie beim Pferd-herunter-fallen: entweder du zwingst dich sofort wieder an die Sache heran oder du machst es nie wieder.

Wer jetzt glaubt, vor uns steht ein Draufgänger der sich à la „Pirates of the Caribbean“ in bester Johnny-Depp-Manier überall reinstürzt, wo unten die Wellen brodeln und oben die Sonne scheint, der irrt. Und zwar gewaltig. „The Duke“ nennen sie ihn ehrfürchtig und da dürfen wir uns einen Herzog mit seinen besten Eigenschaften vorstellen: Einen, der besonnen die Elemente beherrscht und wohl überlegt sein Ding durchzieht. Immer das Risiko im Hinterkopf, niemals „just for fun“ einen Schritt zu weit gehen.

 

„Ist Gefahr ein mentaler Thrill der dich anzieht?“

„Ich denke schon. Ich liebe es, oben auf einem Felsen zu stehen und über den Sprung nachzudenken. Ich frage mich: Wie werde ich es machen? Was wird passieren? Dann beginnt mein Herz schneller zu schlagen. Aber in der Luft werde ich ganz ruhig. Versuche eine perfekte Körperhaltung zu haben, kleine Fehler zu korrigieren. Wenn ich dann im Wasser eintauche, kommt dieses wahnsinnige Glücksgefühl. Das ist mehr ein mentales Ding als ein physisches. Wir gehen da raus, damit wir uns zuerst fürchten und sind zwei Sekunden später glücklich, wenn der Sprung gelungen ist.“

„Bist du schon einmal nicht gesprungen, weil es zu gefährlich gewesen wäre?“

„Wenn ich einen Platz besichtige, weiß ich davor schon viele Details. Dann komme ich hin und schaue, ob es klappen kann. Wenn etwas nicht in meine Sicherheits-Routine passt, höre ich sofort auf zu checken und gehe.“

„Du kannst also Nein sagen, auch wenn der Platz wunderschön ist?“

„Ja, das kann ich!“

 

Zehn Jahre war Orlando Duque alt als er in seiner Heimatstadt Cali das erste Mal einen Sprung ins Wasser wagte. In einen Pool neben dem Fußball-Platz, wo man sich, ganz Klein-Kolumbianer, zum Kickerl traf. Auch ein bißchen Baseball und Judo hatte er da schon probiert. Ob er aber Schwimmen kann, wusste er nicht. Es geht auch die Mär um, dass er als Kind wasserscheu gewesen sei. Stimmt nicht, sagt Orlando, das habe einen ganz profanen Hintergrund. Immer wenn ihn die Mutter am Abend zum Baden und Schlafen gehen ins Haus rief, fielen ihm tausend Ausreden ein, um noch etwas länger mit seinen Kumpels im Freien herumstreunen zu können. Mütter interpretieren so was gern mit Wasserscheuheit, heute lacht die ganze Familie darüber. Als Orlando also damals am Pool zum ersten Mal in tiefes Wasser starrte – bis dahin war er nur in seichten Becken geschwommen – spürte er so etwas wie Angst. „Kann ich wirklich schwimmen?“ dachte er, hatte aber keine Zeit für eine Antwort. Hinter ihm drängelten schon die anderen Jungs und Kneifen war nicht drinnen. „Also sprang ich und trieb auf die andere Pool-Seite zu. ,Oh, that’s cool!‘ dachte ich und dachte nie wieder in meinem Leben darüber nach. Ich verliebte mich in diesen Sport.“ Dieser Sport war Turmspringen, wo er zunächst viel Technik lernte und sich langsam bis zum 7-Meter-Brett raufhantelte. „Da stand ich dann da oben und schaute vorsichtig runter. Wow – und dann wurde mir ganz schwindelig. Ich ging ein paar Schritte zurück, schloss die Augen, rannte los und sprang.“ Noch heute hat er übrigens bei seinen Sprüngen die Augen fest geschlossen.

In der Disziplin Turmspringen schaffte er jedenfalls als 18-Jähriger das Limit für die Olympischen Spiele in Barcelona. Wo er aber nicht teilnahm, weil der kolumbianische Verband kein Geld für die Startplätze hatte. Was dann folgte, war so was wie der zarte Versuch ein herkömmliches Leben anzuvisieren: Orlando begann ein Ingenieur-Studium. „Zwei Jahre habe ich durchgehalten. Ich bin Outdoor und in einem Pool aufgewachsen. Plötzlich war ich in einem Raum mit Computern eingesperrt, umgeben nur von Zahlen und tippte Codes – das ging nicht.“ Was aber schon ging: sich als Show-Attraktion von winzigen Plattformen auf hohen Leitern in Mini-Pools zu stürzen. High-Diving nennt sich das Spektakel, das sich in den Neunziger Jahren in Fun-Parks rund um den Erdball zum Publikums-Hit entwickelte.

Ich war jung und ich brauchte das Geld? „Ja“, sagt Orlando, „aber ich hatte viel Spaß und kam in der Welt herum.“ Geschenkt, auch wenn wir den Safaripark im niederösterreichischen Gänserndorf jetzt nicht gerade als spannende Welt-Destination bezeichnen wollen. Zwei Saisonen lang schraubte er sich da im Clownkostüm vor begeisterten Kinderscharen von 25 Meter Höhe in ein brennendes Klein-Pool. Aber er perfektionierte dabei seine Technik. Und er wurde anschließend von einem Vergnügungspark in Hawaii engagiert, was dem Kolumbianer nicht nur klimatisch sehr entgegen kam. Er traf dort seine heutige Ehefrau Lee und baute sich auf der Insel ein neues Leben auf.

„Ich habe mich ja zuerst in seinen unglaublichen Sprung-Stil verliebt“, erzählt Lee, eine Hawaiianerin, die damals im selben Park als Tänzerin engagiert war. Den dazugehörigen Mann hat sie erst ein paar Tage später getroffen und dann brauchte es noch kurze Zeit, bis auch zwischenmenschlich alles klar war. Heute sind die beiden knappe zehn Jahre verheiratet, bei Cliff Diving Competitions ist sie aber selten dabei. Nicht weil sie um das Leben ihres Mannes fürchten würde. Im Gegenteil. „Wenn einer riskante Sprünge schafft, dann Orlando“, sagt Lee. „Da habe ich viel mehr um die anderen Cliff Diver Angst!“ Obwohl, ganz so ist das jetzt auch nicht. Ein Anruf nach einem Wettkampf-Sprung beruhigt ihre Nerven sehr. Sollte das umgebungstechnisch nicht gehen, weil manche Klippen doch weit entfernt von Zivilisation und Handy-Netz liegen, wird das vorher abgemacht. Und sollte das Risiko sehr hoch sein, will sie gleich gar nichts davon wissen. So wie vor ein paar Jahren beim Sprung im kärntnerischen Kötschach-Mauthen, den Orlando noch heute als seinen gefährlichsten bezeichnet. Das war für den Cliff Diving-Film „9Dives“ und mit 22 Metern nicht einmal aus einer spektakulären Höhe. „Aber es gab nur einen winzigen Flecken, wo das Wasser tief genug war. Ich musste weit hinausspringen, um genau diesen Punkt zu treffen.“

„Gelang der Sprung, weil du das mathematisch berechnen kannst?“

„Das kann man nicht berechnen. Wir wissen was wir tun. Wir klettern auf einen Felsen, werfen unterwegs Steinchen ins Wasser, schauen, wo sie landen. Dann wirfst du von oben wieder und kannst hören, wie schnell du abspringen musst, um einen guten Flug hinzulegen.“

„Nehmen wir an, alles ist perfekt vorbereitet. Dann stehst du in der Früh auf und hast einen schlechten Tag. Springst du?“

„Hängt davon ab, ob ich mich mental auf 100 Prozent bringen kann. Ich kann ein bisschen müde, ein bisschen unkonzentriert sein, aber ich kann mich für den Absprung auf volle Konzentration bringen. Das ist ein Prozess. Und wenn ich dann da oben stehe, gibt es nur mehr mich und nichts anderes mehr.“

 

35 Meter war der höchste Punkt von dem Orlando bis jetzt gesprungen ist. Auf 40 möchte er unbedingt noch kommen. Doch Höhe ist nicht die einzige Herausforderung, in dem Sport, der sich in den letzten Jahren sehr weiter entwickelt hat. Auch die Qualität der Sprünge hat sich stark gesteigert. „Vor zehn Jahren hätte ich nicht geglaubt, dass ich einen dreifachen Rückwärtssalto mit zweifacher Drehung schaffen könnte. Heute denke ich daran, noch eine Drehung einzubauen.“ Das braucht neben permanenten Training, viel Zeit und Geduld. Mit letzterer ist der Weltmeister von Natur aus gut ausgestattet. Ruhig und besonnen steht er zwischen den Touristen am Hamburger Hafen, vollkommen unbeeindruckt vom hektischen Treiben rundherum. Vermutlich hat er noch nie die Nerven verloren. Wozu auch? Er vertraut auf sein Training, seine Technik, sein Können. Und er freut sich, dass Cliff Diving immer populärer wird. Auch als ernstzunehmende Sportart, weil der Aufwand dahinter erkannt wird. Vorbei die Zeiten, wo man die Springer als „crazy guys“, die in winzige Wasserlöcher springen, abtat. „Es wird zwar immer in der Extremsportecke bleiben und niemals eine Olympische Disziplin. Der Run der Jungen ist aber enorm.“ Gut sei vor allem, dass immer mehr Turmspringer nach ihrer Karriere zum Klippenspringen wechseln. Beste Voraussetzungen, weil sie technisch auf hohem Niveau beginnen. Fürs Turmspringen ist man mit 25 Jahren zu alt, mit Klippenspringen sollte man jünger gar nicht anfangen, weil einem die nötige mentale Reife fehlt. Hauruck und Leben riskieren macht man halt nur einmal. Und wann, bitteschön, ist man als Cliff Diver zu alt? Das weiß der 34-Jährige jetzt auch nicht so genau. Die meisten treten verletzungsbedingt ab. Der 44-jährige Ukrainer Andrey Ignatenko aber, ist noch immer einer der Besten der Welt. Orlando hofft zu erkennen, wenn er keinen guten Job mehr macht, also beim immer höher werdenden Niveau nicht mehr mitkommt. „Das kommt schneller, als man denkt. Die nächste Generation scharrt schon in den Startlöchern. Wenn ich nicht mehr unter den Top Ten bin, wird es Zeit, dass ich mir etwas anderes suchen muss.“  

bottom of page