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Wipptal

Servus Magazin Oktober 2018
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IM VERSTECKTEN TAL

Das Wipptal selbst ist kein echter Geheimtipp mehr. Seine Seitentäler aber sind so unberührt, dass man glaubt, man ist im Heimatfilm gelandet. Wer einmal hier war, hat nur einen Wunsch: Bitte lass es so bleiben!

© Fotos: Bernhard Huber 

Haben Sie sich auch schon einmal gefragt, was da drunten liegt? Falls ja, dann ist dieser Gedanke wohl nur schnell vorbei gehuscht, wie ein leichter Windstoß, der von einem der hohen Gipfel ins Tal stiebt. Kurz die Wangen gekühlt, schon ist er wieder weg. Auf der Fahrt nach Süden und wieder retour zählt das Ziel und nicht der Weg, vor allem wenn man dafür die Brenner-Autobahn wählt. Seit 50 Jahren schleust sie den Verkehr hoch droben zwischen Innsbruck und dem Brennerpass durch Tirol, nur wer es genauer wissen will und runter schaut, wird belohnt. Mit verträumten Dörfern und einer mächtigen, beinahe unberührten Landschaft, die sogar den Stelzen der Autobahn eine Anmut verpasst, als wären sie eine Selbstverständlichkeit in dieser Postkarten-Idylle.

Seit Jahrhunderten führt eine der wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen durch das Wipptal über den Pass rein ins Eisacktal und weiter bis ans Meer. Auf dem alten Säumerpfad fuhren später Pferdekutschen, die auch den Geheimrat Goethe ins Land brachten, wo die Zitronen blühen. Dann kam die Eisenbahn, und es dauerte nicht mehr lange bis dichter Verkehr durchs enge Tal rollte. Als dieser auf die Autobahn verlagert wurde, fiel das Wipptal in eine Art Dornröschenschlaf.

Dafür sind wir jetzt ein Geheimtipp, sagt Burgi Almberger und dabei mischt sich ein klein wenig Stolz in ihr vergnügtes Grinsen. Vielleicht weil man hier eisern durchgehalten hat, als der Rest der Welt am kleinen Flecken an der Grenze zu Italien vorbeirauschte. Vielleicht weil man vor allem in den vier Seitentälern – dem Obernberg- und dem Gschnitztal, die sich nach Westen strecken und den beiden ostwärts gelegenen Tälern, dem Navis- und dem Valsertal – einfach so weiter tat, wie man es immer schon tat. Ein bisschen eigensinnig und mit so viel Natur pur rundum, dass sie so gut wie die einzige ist, die das Leben mitbestimmen darf.

Selbst als man 1919 hier die Grenze mitten durch die jahrhundertealten Talgemeinschaften zog, ließ man sich vor allem im Obernbergtal nicht davon beeindrucken. Hier wurde alles geschmuggelt, sagt Burgi, auch Juden versuchten die alten Bauern während der Nazizeit über verschlungene Bergpfade aus dem Land zu retten. Schmuggeln muss man in Zeiten der EU längst nicht mehr und die Zöllner haben sich vor 23 Jahren verabschiedet. Im alten Zollgebäude in Obernberg haben Burgi und ihr Ehemann Sepp jetzt Appartements für Alpintouristen eingerichtet.

Die Wirtstochter aus Steinach am Brenner und der Koch aus dem Stubaital kamen vor zwölf Jahren nach Obernberg und übernahmen ein altes Dorfgasthaus aus dem 18. Jahrhundert. Wir wollten einen gemütlichen Stützpunkt für Naturliebhaber machen, sagt Burgi, während durch die große Fensterfront der Gaststube von Almis Berghotel die schroffen Felswände des Tribulaun-Massivs eine Mächtigkeit ausstrahlen, die den Menschen sofort auf die ihm in dieser Welt zustehende Winzigkeit reduziert.

Eine Kraft, die du noch mehr am Obernberger See spürst, sagt Sepp, der früher in den besten Häusern Tirols gekocht hat. Damals habe ich mit Leidenschaft Skulpturen aus Gemüse, Butter oder Eis geschnitzt, sagt er und dass er heute lieber bodenständig kocht, in seinem Berghotel rumbastelt und in die Berge geht. Droben am Obenberger See (1.590 m) wollten die Almbergers einmal das Wirtshaus, ein Relikt aus den 1920ern, wiederbeleben. Drei Jahre lang haben sie dort mitten im Landschaftsschutzgebiet gewohnt. Schön wars, sagt Burgi mit einem leicht sentimentalen Glanz in den Augen. Ihre Jüngsten, Marian, 11, und Andrea, 12, brachte sie dort zur Welt, die beiden wuchsen dann zwar ohne fließend Warmwasser und mit kaum Elektrizität auf, konnten dafür aber in einer der wildromantischsten Kulissen Tirols spielen. Fern jeder Zivilisation, denn hier kommt man nur zu Fuß hin.

Es war ein Felssturz vom Obernberger Tribulaun (2.780 m) vor 15.000 Jahren der aus dem See die meiste Zeit im Jahr zwei macht. Nur bei Schneeschmelze und viel Regen verbindet sich die smaragdgrüne Wasseroberfläche zu einer Einheit in der sich Himmel und Erde glasklar spiegeln. Wer sich hier ans Ufer setzt hat die Welt da draußen im Nu vergessen, der läßt sich lieber vom Rauschen der Bäume Geschichten ins Ohr flüstern. Über wilde Kerle und sanfte Waldgeister vielleicht, die des Nächtens hier tänzelnd abtauchen und erschrocken fliehen, sollten sie in ihrer Ruhe gestört werden. Das alte Gasthaus am See steht seit dem Auszug der Almbergers, die sich seit acht Jahren ganz auf ihre Wirtschaft unten im Dorf konzentrieren, leer und kommt immer wieder in die Schlagzeilen. Investoren schmieden großartige Hotel- und Restaurantpläne, lassen sie aber schnell wieder fallen. Und so können sich die Waldgeister noch länger ins Fäustchen lachen.

Auch im Paralleltal bestimmt Ruhe und Beschaulichkeit den Gang der Dinge. Auch hier markiert ein nach dem Tal benannter Tribulaun, der Gschnitzer Tribulaun (2.946 m), das Ende der Welt, zumindest das Ende aller Wege. Hinter der Kante da ist Italien, sagt Verena Salcher, 36, und fuchtelt mit dem Arm Richtung Felswände, die sich über unseren Köpfen auftürmen. Selbst rund um uns und unter uns gibt es nur Geröll und Steine, ab und zu unterbrochen von einem Schneeflecken, der den heißen Sommer hier in aller Frische überstanden hat. Bald wird neuer Schnee dazu kommen, aber dann wird die Tribulaunhütte auf 2.064 Metern Höhe schon dicht gemacht sein.

Im Oktober müssen wir alles rund um die Grundmauern abbauen, sogar den Kamin, sagt Verena, sonst schluckt’s die Lawine. Seit ihrer Errichtung 1923 wurde die Hütte mehrmals ins Tal gefegt, 1975 das letzte Mal. Nachdem Verenas Eltern, Maria und Sepp Pranger, die überall verstreuten Matratzen, Pölster und Töpfe eingesammelt hatten, wurde die Hütte an einer geschützteren Stelle wieder aufgebaut. Jetzt fetzts oben drüber, sagt Verena und klopft sicherheitshalber auf den Holztisch.

Schon als Kind verbrachte sie ihre Sommer mit den Eltern hier in der Abgeschiedenheit, wo neben Gemsen, Murmeltieren und Füchsen nur Bergsteiger und Wanderer vorbeikommen. Seit 2012 ist sie die Pächterin und schupft die Hütte mit tatkräftiger Unterstützung der ganzen Familie. Während sie mit Papa Sepp in der Küche die Knödel rollt, kümmern sich Mama Maria und Verenas Tochter Maria, 11, um die Gäste. Und Sohn Marco, 14, schaufelt gemeinsam mit seinem Opa nach jedem Gewitter die Wege frei, sonst kommt ja keiner mehr ins Tal.

Er liebt die Bergwelt, der braucht auch kein Videospiel, sagt Verena über ihren Sohn, der viel lieber mit dem Gucker Ausschau nach Steinböcken hält. Handys kann man hier überhaupt vergessen, gerade einmal mit dem guten, alten Nokia 6310 schafft man eine holprige Verbindung zur Außenwelt. Die habe ich jetzt alle aufgekauft, sagt Verena und schwingt sich in ihren Puch G, Baujahr 1980, so ziemlich das einzige Fahrzeug mit dem man den steinigen, steilen Pfad zur Hütte bewältigen kann.

Auf derart schweres Gerät ist man unten im breiten, sonnigen Gschnitztal nicht angewiesen. Hier kann man gemütlich und umgeben von den Stubaier Alpen in aller Ruhe etwa zum Mühlendorf wandern. Einer pittoresken Ansammlung alter Wassermühlen und Bauerngerätschaften, in der mittendrin Angela Pranger, 73, zeigt, wie man früher im Freien im Holzofen Brot gebacken hat. Mit keckem Lächeln im Gesicht, immer zum Schmähführen bereit und einer natürlichen Grazie, als wäre sie einem Heimatfilm entsprungen. Dem „Finsteren Tal“ mit Tobias Moretti vielleicht, der 2014 hier irgendwo in der Einschicht gedreht wurde.

Wie aus einem Western wirken hingegen die drei Amort-Brüder in der alten Dorfschmiede drüben in Matrei. Wenn sie so dastehen strahlen sie eine Wildheit aus, die einen sofort respektvoll auf Distanz gehen lässt. Auf den zweiten Blick aber zeigt sich ihre Sensibilität und Kunstsinnigkeit. Gut, die verspielt verzierten Hufeisen von Paul, 58, sind mehr etwas für die Souvenirläden. Die kunsthandwerklichen Fähigkeiten von Georg, 53, sind aber in der ganzen Gegend unübertroffen. Er renoviert in der Schmiede aus dem 17. Jahrhundert alte Kreuze und schmiedeeiserne Kirchenverzierungen. Derzeit rekonstruiert er für die silberne Kapelle in der Innsbrucker Hofkirche ein Geländer aus dem 16. Jahrhundert, dass im I. Weltkrieg eingeschmolzen wurde.

Von vorneherein den Weg der freien Kunst gegangen ist Anton, 55. Seine Stelen und Skulpturen aus Holz, Granit und Eisen stehen in ganz Tirol im Freien herum. Eine ganz eigene Faszination üben seine riesigen Bilder aus, die er mit einer Flex auf Edelmetallplatten schleift und die auch schon bei der Art Wien im Leopoldmuseum zu sehen waren.

Der sportlichste der Brüder ist übrigens Georg, der schon viermal beim Dolomitenmann mitgemacht hat. Zum Trainieren findet sich hier überall genug extremes Gebiet. Das Navistal etwa, dessen schluchtiger, enger Talboden vollkommen unbesiedelt ist. Wer hier lebt, lebt hoch oben auf über 1.300 Metern und das nur auf der Sonnenseite.

„Tal der Liebe“ sagen die Einheimischen hinter vorgehaltener Hand und tischen dann kichernd ein paar Geschichten auf. Dass hier alles so steil ist und das einzig halbwegs waagrechte, wo man sich in den Häusern aufhalten kann, die Betten sind, zum Beispiel. Tatsache ist, dass hier nach den beiden Kriegen erstaunlich viele uneheliche Kinder registriert wurden. Man nimmt an, sie wurden von hungrigen Städtern gezeugt, die damals bei den Bäuerinnen Liebe gegen Lebensmittel eintauschten.

Bei Franz Hörtnagl, 63, in Navis ist jedenfalls alles im Lot, obwohl man allein schon von den Dämpfen seiner Schnapsbrennerei in Schieflage kommen könnte. Seit über zehn Jahren widmet sich der Forstunternehmer edlen Bränden, vor allem seine Vogelbeere wird unter Kennern sehr geschätzt. Die wächst bei uns überall, sagt Franz, sowie auch die Meisterwurz hoch oben auf über 1.600 Metern. Jetzt im Herbst schießt die ganze Kraft in die Wurzeln, dann ist es Zeit sie einzusammeln. Für den Meisterwurzschnaps kommen vier bis fünf Handvoll in einen Liter Apfelmaische. Das wird so intensiv, dass du vom Apfel nichts mehr schmeckst, sagt Franz, schultert seinen Pickel und macht sich auf die Suche. Eventuell schaut er später ganz hinten im Tal auf der Alm von Karl Peer vorbei, der dort Almbutter und –käse macht. Nebenbei bastelt er gerade an einer 1.000-seitigen Familienchronik, immerhin leben die Peers seit 1315 hier im Navistal.

Bereits im 13. Jahrhundert wurde das südlich gelegene Valsertal besiedelt, wo das Leben scheints seither so gemächlich seinen Gang geht, als wäre man nicht einmal noch im vorigen Jahrhundert angekommen. Vermutlich musste man für den großartigen Heimatfilm „Vals“ von Anita Lackenberger 2014 nicht einmal das kleinste Detail für die passende Kulisse verändern und irgendwie hat man dauernd das Gefühl, Gerti Drassl als Rosa kommt jetzt gleich aus dem Grauerlenwald, dem größten in Österreich, gelaufen. Stattdessen spaziert Helga Hager, 56, mit ihrer Ziegenherde fröhlich über die Almwiesen und ist dabei so heutig, wie die Szenerie echt ist.

Schon als Mädel habe ich hier als Sennerin meine Almsommer verbracht, sagt Helga, während wir vor der alten Hütte sitzen und uns willenlos der Pracht der Bergwelt ergeben. Doch dann musste ich raus in die Welt, sagt Helga jetzt und wir können uns gut vorstellen, wie das so ist, wenn man jung, ungestüm und neugierig auf ein Leben jenseits von Kühen, Milch und steilen Felswänden ist. Das Valser Bauernmädel entwickelte eine große Affinität zu Wein, wurde 1991 eine der ersten Sommeliere des Landes, bereiste die ganze Welt und gründete in Going eine Familie.

Bis 50 war der Wein mein Leben, sagt Helga und läßt uns vom Ziegentopfen kosten. Doch das hier, sagt sie und dreht sich mit ausgebreiteten Armen einmal um die Achse, sodass die Ziegen ganz verwundert aufschauen. Das hier ist meine Erfüllung, sagt Helga und wir glauben das aufs Wort.

2012 pachtete sie die alte Familien-Alm von ihrem Bruder, legte sich fünf Tauernschecken-Ziegen zu und machte die Ausbildung zur Bergwanderführerin. Seither lebt sie von März bis April wieder so wie in ihrer Jugend. Ich mache auch meinen Ziegenkäse wie vor hundert Jahren, sagt sie, ganz puristisch, aber natürlich mit viel mehr Hygiene.

Langsam legen sich jetzt die Schatten der Berge übers Tal und die Dämmerung nimmt ihm etwas von seiner Leichtigkeit. Wennst hier in der Einsamkeit lebst, wirst damisch, sagt Helga und übersetzt das gleich mit eigensinnig. Da lasst du dir nämlich von niemanden etwas sagen. Nur von der Natur. 

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